Protokoll des 2. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 23. Februar 1974

 

Manfred Faust

Entwicklung eines Idiolekts: Die Bildunterschriften von Paul Klee

Die Bildunterschriften, mit denen der Maler Paul Klee dem Betrachter eine Interpretation der großenteils ungegenständlichen Bilder gibt, wurden ohne Berücksichtigung der zugehörigen Bilder als Texte quantitativ untersucht. Es handelt sich um rund 9 000 Bildunterschriften aus der Zeit zwischen 1900 und 1940. Als Gesamttendenz der Entwicklung des Idiolekts ergab sich, daß kurze Bildunterschriften im Laufe der Zeit häufiger und lange seltener werden. Im einzelnen zeigte sich, daß die Entwicklung des syntaktischen Repertoires unabhängig von der Entwicklung des Wortschatzes verlief. Die syntaktischen Typen wurden kontinuierlicher verwendet als die Wortschatzeinheiten. In den letzten Jahren wurden verhältnismäßig häufig syntaktische Typen und Wortschatzeinheiten verwendet, die vorher in der Tradition der Bildtitel und Bildunterschriften nicht üblich waren.
 

Matthys Klemm

Darstellung von semantischen Strukturen als Wortfeldmatrix

Datenträger: Lochkarten; Programmiersprache: FORTRAN IV.
Der Algorithmus basiert auf den Funktionen der Wortfeldmatrix (nach: Geckeler, H.: Zur Wortfelddiskussion. München 1971). Das Wortfeld wird als zweidimensionales Datenfeld mit einwertigen Terms aufgefaßt.

Auf EDV übertragene Manipulationen:

  1. Ausfaltung und Auflistung von Datenfeldern:
    Aus den in den Oppositionsgruppen implizit enthaltenen Informationen wird die eigentliche Struktur der Wortfelder erschlossen und dargestellt. In dieser Struktur sind die einzelnen lexikalischen Bedeutungsunterschiede durch Zuordnung zu den jeweiligen Semen gekennzeichnet. Sie bildet die Grundlage für die weiteren Bestimmungen.
    Vorteile: Nur die Oppositionsgruppen müssen erfaßt werden, die Zuteilung der Seme geschieht maschinell. Die Wortfelder bleiben überschaubar, Änderungen oder Verbesserungen lassen sich jederzeit nachtragen.
  2. Spezifikation durch Codierung:
    Die in den einzelnen Textstellen vorkommenden Vokabeln werden anhand der mit ihnen kommutierbaren Lexeme aufgrund ihrer Wortfeldfunktion bestimmt und codiert. Dadurch wird für den konkreten Wortgebrauch im Text die jeweilige "Bedeutung" bestimmt.
    Vorteile: Nur die kommutierbaren Lexeme müssen aufgeführt werden; genaue Klassifizierung erfolgt maschinell.
  3. Ordnen:
    Die vorausgehend bestimmten Stellen werden nach ihrem Code geordnet. Es ergibt sich eine zusammenfassende Übersicht über die in der ganzen Schrift gebrauchten Bedeutungen mit den jeweiligen Textstellen.
    Vorteile: Nachträge aus den vorangegangenen Bestimmungen können unmittelbar berücksichtigt werden.
    Schwierigkeiten: Neues Anwendungsgebiet, daher keine direkten Vorlagen sowohl für EDV wie für Abhandlung; fächerübergreifende Arbeit ohne entsprechende Arbeitsgemeinschaften ist relativ aufwendig.

 

Niclas von Lyncker

Schildzeichen und Schildträger auf attischen Vasen

Die Schildzeichen der Griechen sind in sehr großer Anzahl von attischen Vasen des 6. und 5. vorchristlichen Jahrhunderts bekannt. Eine breit angelegte Untersuchung erfordert eine sortierfähige Erfassung eines jeden Schildzeichens mit Einschluß aller wichtigen Begleitumstände wie Person des Schildträgers, Zeitstellung, ausführender Künstler usw. Wo es möglich ist, werden die Beschreibungsmerkmale in einem bis zu drei Stellen langen Schlüssel angegeben, sonst erscheinen sie im Volltext. Im allgemeinen reicht eine 80-stellige Lochkarte aus, um ein Schildzeichen zu erfassen; bei komplizierteren Eintragungen können bis zu 9 weitere Karten für die Aufnahme verwendet werden. Die Datei enthält pro Schildzeichen 9 Beschreibungsmerkmale. Sie kann nach jedem einzelnen oder auch jeder beliebigen Kombination davon sortiert werden. Es ist somit möglich, das Material in sehr kurzer Zeit in einer dem jeweiligen Ansatz entsprechenden Form vorzulegen. Die EDV soll hier keine Ergebnisse liefern, sondern allein die Materialsammlung und -verwaltung erleichtern.
 

Michael Krupp

Das Mischna-Editionsprojekt

Mischna ist die Grundlagenliteratur des Frühjudentums, an Umfang so stark wie die Bibel, zur Zeit des Neuen Testaments als Traditionsliteratur entstanden.
Aufgabe des Projekts ist es, zwei von 63 Traktaten als Musteredition mit Hilfe der EDV zu veröffentlichen, um zu prüfen, ob diese Methode den Anforderungen einer modernen Textedition genügt.

Organisation:

  1. Ablochung aller Manuskripte und Erstdrucke. Datenaufnahme erfolgt durch Hilfskräfte.
  2. Anlegung einer Datenbank, die alle Varianten und andere Angaben enthält; geschieht durch Fachkraft auf halbmanuelle Weise.
  3. Vergleichen der bei den Schritten 1. und 2. zustandegekommenen Daten durch die EDV und Verbesserung der fehlerhaften Daten.
  4. Anordnung des Satzspiegels durch die EDV. Ausgegeben werden neben dem Haupttext vier Varianten-Apparate sowie ein Parallelstellenverzeichnis und fortlaufende Angabe der Fragmente und Zitate.
  5. Ausdrucken auf der Lichtsatzmaschine Digiset, die die endgültigen Folien für den Druckvorgang liefert.

Hauptvorteile der EDV:

  1. Übersichtlichkeit und Konsequenz in Datenaufnahme und Satzgestaltung
  2. Fehlerlosigkeit der Daten und Wegfall von Korrekturlesen
  3. Möglichkeit verschiedener Ausgaben ohne großen Mehraufwand (Studienausgabe und wissenschaftlich-kritische Ausgabe). Leichte Berücksichtigung aller neuen Manuskripte bei Neuauflage.

 

Peter Wagner

Kakophonie und ähnliche Verstöße gegen die Euphonie in lateinischer Dichtung

Einige lateinische Grammatiker beobachteten in der lateinischen Dichtung und Prosa Regeln, die nach ihrer Meinung bei der Komposition eines lateinischen Satzes des Wohlklangs wegen beachtet wurden. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich insbesondere auf die Wortübergänge. Hier bestand z.B. die Möglichkeit zu einer dem lateinischen Sprachsystem sonst fremden Aufeinanderfolge bestimmter Phoneme: "rex Xerxes" (Diomedes). Hier konnten aber auch durch Verbindung größerer Einheiten, z.B. Silben, ungewöhnliche Wiederholungen: "fortunatam natam" (Diomedes) oder gar Anklänge an obszöne - und daher gemiedene - Wörter entstehen: "Dorica castra" (Servius).
Vergil (Aeneis) und andere lateinische Autoren werden mit dieser Theorie konfrontiert. Über die eher beispielhaften Angaben der Grammatiker hinaus wird die Frage gestellt, ob vielleicht noch andere Phonemfolgen im Wortübergang vermieden wurden. Ein Blick auf vergleichbare Erscheinungen im Altgriechischen soll daran anschließen.

(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den Referenten zur Verfügung gestellt.)


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tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 24. Januar 2002