Protokoll des 3. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 18. Mai 1974

 

Der Computer als Werkzeug des Herausgebers

Begrüßung und Einführung

Wilhelm Ott

Dieses Kolloquium zum Thema "Editionstechnik" ist gedacht als erste Konfrontation mit diesem Anwendungsgebiet, das sich die Abteilung LDDV als eines ihrer Hauptarbeitsgebiete gewählt hat.

Hintergrund:

  1. Es sind Programme zur Automatisierung des Publikationswesens vorhanden, die entstanden sind aus der Notwendigkeit, Computer-Output unverändert zu publizieren, z.B. Materialien zu Metrik und Stilistik (Ott); Indices zu Heinrich Kaufringers Werken (Sappler); auch "normale" Publikationen, z.B. Tübinger Bibliotheksführer, Verzeichnis der Lehrbuchsammlung, Festschrift "350 Jahre Rechenmaschinen".
  2. Es sind einige Editionsprojekte in Arbeit oder schon abgeschlossen:
    • abgeschlossen:
      • Kaufringer: Textausgabe und Index (Sappler)
    • in Arbeit:
      • Gesamtausgabe der Werke des Johann von Staupitz (SFB8: Endriß, Günter, Wetzel)
      • Hieronymusbriefe von Heinrich von Haller (Bauer)
      • Mischna-Edition (Krupp)
      • Freidank: Überlieferungsuntersuchung (Sappler)
      • Repertorium "Medizinische Forensische Gutachten" des 17.-20. Jahrhunderts (Schäfer)
      • Griechisches Neues Testament (Kurt Aland, Münster)
      • Pseudo-Dionysius Areopagita (Adolf M. Ritter, Göttingen)
  3. Mitarbeit in Arbeitsgemeinschaften zur Editionstechnik auch außerhalb der Universität Tübingen.

Bericht aus der Abteilung LDDV:

  1. Ein Standard-Programm zur Erstellung von Indices (vor- und rückläufiger Wortindex, KWIC (Key-word in context)-Index, Häufigkeitsindex) ist fertig.
  2. Eine neue Fassung des Unterprogramm-Paketes für die Textverarbeitung ist - außer neuen Programmen für die Ein- und Ausgabe - fertig; sie werden über Tübingen hinaus u.a. eine der Grundlagen für die Aufstellung eines Leistungsverzeichnisses solcher Unterprogramme in einer Arbeitsgruppe der LDV-Fittings sein.
  3. Die Bemühungen des ZDV um die Anschaffung eines OCR-Gerätes und einer Digiset-Anlage gehen weiter.
  4. Projekte:
    • Kaufringer-Indices (Sappler) liegt gedruckt vor.
    • Zweiter Band des Verzeichnisses der Lehrbuchsammlung der UB im Druck.
    • Erwerbs-Statistik der UB wurde auf OCR umgestellt.
    • Materialien zu Metrik und Stilistik Band 6 und 7 sind fertig; als 8. Band ist ein rückläufiger Wortindex mit metrischer Notation zu Vergil in Arbeit.
    • Die Bibliotheks-Kataloge des ZDV sind erstmals auf dem neuesten Stand (in Arbeit: Verzeichnis der Zeitschriften-Artikel ab 1970).
    • Kurz vor dem Abschluß: Versuch einer Stilistik für Meister Eckhart, Tauler und Seuse (von Siegroth, Würzburg).
  5. Hinweise:
    1. Am Dienstag, 11.6.1974, um 18.30 Uhr findet in der Bibliothek des ZDV ein Vertrag von Herrn Prof. Dr. Norbert Henrichs, Forschungsabteilung für Philosophische Information und Dokumentation der Uni Düsseldorf, statt mit dem Thema "Formulierungsunterstützung beim Einsatz von On-Line-Retrieval-Systemen".
    2. Der Aufsatz von Klaus Arnold "Geschichtswissenschaft und Elektronische Datenverarbeitung" in: Historische Zeitschrift, Beiheft 3 (NF), 1974, S. 98-148 enthält eine gute Zusammenfassung auf dem Gebiet Geschichtswissenschaft und EDV.

 

Günter Kochendörfer

Maschinelle Rekonstruktion mehrfach überlieferter Texte

Es wurde ein Verfahren der Textrekonstruktion vorgestellt, das die Schwierigkeiten, die für die "recensio" vor allem volkssprachlicher Überlieferungen bestehen, zu bewältigen versucht. In den theoretischen Grundlagen auf W.W. Greg und V.A. Dearing aufbauend, ist das Verfahren vor allem dadurch gekennzeichnet, daß über "Rekonstruktionsformeln" für jede einzelne Teststelle eine exakte Verbindung hergestellt wird zwischen Beobachtungen an der zu bearbeitenden Überlieferung und dem rekonstruierten Text.

Weitere wichtige Eigenschaften des Verfahrens:
Es wird darauf verzichtet, an jeder Testtelle die Entscheidung für eine einzige Variante herbeizuführen. Die Leistung des Verfahrens kann vielmehr beschrieben werden als eine methodisch gesicherte Auswahl von Varianten aus der Gesamtmenge der von der Überlieferung gebotenen. Der rekonstruierte Text enthält auch im günstigsten Fall eine gewisse Zahl von Alternativen. Die Schärfe der Rekonstruktion mißt sich an der Zahl der Alternativen im Ergebnistext. Auf Grund des Rekonstruktionsergebnisses kann mit den bekannten eklektizistischen Methoden ein linearer Lesetext hergestellt werden. Es können beliebig komplexe, d.h. z.B. beliebig durch Kontamination gestörte Überlieferungen exakt bearbeitet werden. Man riskiert nur, daß im Extremfall das Auswahlverfahren nicht mehr zu einer Reduktion der von der Überlieferung gebotenen Variantenzahl führt, daß der Rekonstruktionseffekt also gleich null ist. In diesem Zusammenhang ist wichtig, daß überall nicht ausreichend abzusichernde philologische Entscheidungen offengelassen werden können.

Es wird für alle irgend geeigneten Schritte die Datenverarbeitung eingesetzt. Dazu sind 10 Programme entwickelt worden, die ungefähr die folgenden Bereiche umfassen:

  1. Kollation
  2. Erhebung eines überwiegenden Teils der an der Überlieferung zu machenden Beobachtungen
  3. Ermittlung und (teilweise) Bearbeitung von Inkonsistenzen unter den Beobachtungen, die z.B. den Schluß auf Kontamination zulassen
  4. Aufbau von Rekonstruktionsformeln
  5. Rekonstruktion unter Verarbeitung aller im Verlauf des Verfahrens vom Philologen eingebrachten Informationen.

Die Entwicklung des Verfahrens ist vorerst abgeschlossen. Für die Muster-Edition eines Ausschnittes aus Wolfram von Eschenbachs "Parzival" (300 Verse nach 19 Textzeugen, Gemeinschaftsarbeit mit Bernd Schirok) sind alle maschinellen Arbeiten durchgeführt. Weitere Editionen sind nicht geplant.

 

Wilhelm Ott

EDV-Unterstützung bei der Untersuchung komplexer Überlieferungen

Es gibt Überlieferungslagen, bei denen ein Versuch einer Stemma-Erstellung nicht sinnvoll ist. Beispiel: das griechische Neue Testament mit ca. 5000 griechischen Textzeugen.
Problem hierbei zunächst: feststellen, welche Zeugen unbeschadet übergangen werden können.
Hierfür laufen Programme, die - bei Eingabe der Kollationsergebnisse des kompletten Handschriften-Materials an ausgewählten Teststellen - zweierlei leisten:
  1. Übersicht über die Bezeugung an den einzelnen Teststellen in verschiedenen Formen.
  2. Übersichten über das Verhältnis der einzelnen Zeugen zueinander.

Die Programme sind so geschrieben, daß damit bis zu 2000 Zeugen bearbeitet werden können; die Lesarten können bei der Eingabe durch einen Code gekennzeichnet werden, der eine Zusammenfassung einzelner Lesarten zu Lesartengruppen erlaubt (z.B. orthographisch verschiedene Formen sachlich gleicher Varianten), so daß entsprechend differenzierte Listen (z.B. mit oder ohne Berücksichtigung orthographischer Varianten) ausgegeben werden können.

Für die Ausgabe selbst ist vorgesehen, ausgehend von der Eingabe der vorverarbeiteten Kollationsergebnisse den kritischen Apparat per Programm zusammenzustellen.

Eine detaillierte Vorführung der vorhandenen Programme und der Möglichkeiten des EDV-Einsatzes für derartige Überlieferungslagen könnte Thema eines weiteren editionstechnischen Kolloquiums sein.

(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den Referenten zur Verfügung gestellt.)


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tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 29. Januar 2002