Aus dem Protokoll des 66. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 10. Februar 1996

 

Johannes Wahl (Stuttgart)

Lebensläufe von Pfarrfamilien im 17. Jahrhundert.
Historische Dynamik als Computerproblem

Die historische Forschung wendet sich immer stärker von entindividualisierenden quantifizierenden Fragestellungen der historischen Sozialwissenschaft ab und tendiert dazu, die Erfahrungen und Handlungen der Menschen in der Vergangenheit in den Vordergrund zu stellen. Diese lebensweltlich orientierte Problemstellung, die der Komplexität der Alltagswirklichkeit der historischen Subjekte Rechnung trägt, gibt den Blick frei für zeitlich variable, geschlechterspezifische Bruchlinien in Lebensläufen, die sich gegenüber der Erfassung in statischen Modellen sperren. Eine daraus resultierende Forschungskonzeption, die versucht, die historische Dynamik von Handlungs- und Erfahrungsräumen einzufangen, schafft auch ein neues Anforderungsprofil gegenüber den Leistungen des Computers, wenn die beobachteten lebensweltlichen Bezüge der Beliebigkeit der Überlieferungssituation entrissen und generalisiert werden sollen.

Die Lebensplanung frühneuzeitlicher Geistlicher und ihrer Ehefrauen, die ich im Rahmen meiner Dissertation "Karriere, Kinder und Konflikte. Lebensplanung und Alltagserfahrung württembergischer Pfarrfamilien im 17. Jahrhundert" untersucht habe, stellt einen solchen, oben skizzierten dynamischen Aspekt der Lebenswelt dar. Lebensplanung bedeutete in diesem Zusammenhang vielfach keinen globalen Lebensentwurf, sondern war Ausfluß einer konkreten Lebenssituation mit bestimmten Handlungsmöglichkeiten innerhalb der Familienentwicklung. Erfahrungs- und Handlungsräume verschoben sich im Laufe des Lebens der Pfarrfamilie. Neue Erfahrungen gaben Anlaß zur Erwartung anderer Zukunft, neue Probleme stellten die Mitglieder des Pfarrhauses vor neue Erfahrungen. Lebensplanung ist damit primär als eine flexible Problemlösungsstrategie zu verstehen, eine Reaktion auf individuelle oder kollektive Erfahrungen einer temporären Lebensphase.

Strategien, die eine bestimmte nahe oder fernere Zukunft antizipierten, umfaßten Überlegungen und Umsetzungsversuche sowohl hinsichtlich der Karriere- als auch der Familienentwicklung, die im Zeitpunkt der Heirat ihren ersten gemeinsamen Schnittpunkt besaßen. Karriere und Familie blieben während des gesamten Lebensweges des Ehepaares aufeinanderbezogen. Stellenwechsel des Geistlichen orientierten sich an den Bedürfnissen des Familienzyklus, die je nach Lebensphase variierten.

Um die aus narrativen Quellen herausgearbeiteten individuellen Lebensplanungen auf ihre Repräsentativität zu überprüfen, wurde aus einem Pfarrerbuch eine Datenbank aufgebaut, die die Karriere- und Familiendaten aller Geistlichen, die zwischen 1600 und 1699 im Herzogtum Württemberg ein Diakonat oder Pfarramt innehatten, berücksichtigte. Die aufgenommenen Informationen umschlossen neben den Lebensdaten der knapp 3000 Pfarrehepaare und deren Kinder auch Hintergrunddaten zu den Elternhäusern. Als wichtige Karrieremerkmale galten Studienabschluß, Vikariatszeit, das Berufungs- bzw. Ordinationsdatum und der Karriereverlauf. Heiratsort und -datum ermöglichten Rückschlüsse auf Modalitäten der Partnerwahl, deren quantifizierbare Fakten ebenso mit der sozialen Herkunft wie mit dem Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes korreliert wurden. Die präzise Aufnahme der weiteren Geburtenabstände und der Berufe bzw. Heiratspartner der Kinder eröffnete den Zugang zu weiterführenden demographischen Analysen. Die keineswegs immer zufriedenstellende historische Überlieferung zwang allerdings dazu, jeweils programmieraufwendige Filterverfahren den Analysen vorzuschalten, die die Datenmenge teilweise empfindlich reduzierten.

TUSTEP, mit dem die Operationen durchgeführt wurden, bot in diesem Zusammenhang den Vorteil, innerhalb eines Programmes sowohl einfache und komplexe Berechnungen durchführen zu können, als auch Häufigkeitsindices bilden zu können, die auf Buchstabenkombinationen als Sortierkriterien (z.B. Berufe, Heiratsorte) zurückgriffen. Die Erwartungen an die kombinatorischen Möglichkeiten des Programmes wurden dabei vollkommen erfüllt.

Die Dynamik der Lebensläufe konnte dabei methodisch auf dreierlei Art und Weise erfaßt werden: (1) durch die Beobachtung sukzessiver Karrierephasen, (2) durch die vergleichende Untersuchung unvollständiger und vollständiger Karriere- und Familienzyklen und (3) durch die iterative Betrachtung einzelner Fünfjahresabschnitte für demographische Analysen.

(1)

Erstellt man ein durchschnittliches Karriereverlaufsprofil der württembergischen Geistlichen im 17. Jahrhundert, indem man die lebenszyklisch differenzierte Verweildauer auf einzelnen Karrierepositionen ermittelt, so fällt auf, daß die Geistlichen auf ihrer ersten Stelle nur kurz blieben. Hatte man den Sprung ins Amt geschafft, war das Pfründeneinkommen auf dieser ersten Karriereposition, meist ein schlecht dotiertes Diakonat oder eine minderwertige Pfarrei an der Peripherie des Landes, wenig einladend, länger als nur ein paar Jahre dort zu verweilen. Da die Familiengröße in dieser Lebensphase rasch anwuchs, wurde sowohl die ökonomische als auch die wohnliche Situation zunehmend problematischer.

In späteren Karrierephasen nahm die freiwillige Mobilität deutlich ab, Phasen mit durchschnittlich über zehnjähriger Verweildauer auf einzelnen Stellen ersetzten die hochmobile Periode des Karrierebeginns. Neben der zunehmenden materiellen Saturiertheit wurde die dauerhafte Nähe zu einer Stadt, deren Lateinschule ein für das Pfarramt bestimmter männlicher Nachkomme von zuhause aus besuchen konnte, zum Leitmotiv, das sich in Mobilitäts- bzw. Verharrungsstrategien ausdrückte. Aus den zahlreich überlieferten Bewerbungsschreiben um bestimmte Stellen geht hervor, daß die Pfarrfamilien damit kostspielige Unterbringungskosten einsparen konnten. Es fällt ferner auf, daß die meisten Geistlichen nur zwei oder drei Stellen im Laufe ihres Lebens innehatten und in der Regel bereits auf der dritten Karriereposition verstarben. Ein Motiv dafür war sicherlich die altersbedingte Abnahme der Mobilität, die darauf zurückzuführen war, daß sich die Pfarrfamilie in einer bestimmten Lebensphase über den Tod des Geistlichen hinaus durch Gütererwerb an einen Ort band, an dem die Witwe ihren Lebensabend verbringen konnte.

Betrachtet man einmal nur die Verweildauer der Pfarrer auf ihrer letzten Stelle, setzt also die Todesdaten der Geistlichen mit dem Amtsantritt auf dieser Pfründe in Beziehung, so läßt sich festhalten, daß die Landgeistlichen im Durchschnitt mit 41,1 Jahren ihre letzte Stelle antraten und diese die folgenden achtzehn Jahre bis zu ihrem Tod bekleideten. Das Erreichen des vierzigsten Lebensjahres scheint daher einen gewissen Wendepunkt im Leben des männlichen Amtsinhabers markiert zu haben, einen Punkt, an dem die Mobilität der frühen Karrierejahre in die Immobilität des Alters umschlug. Verstarb der Pfarrer weit vor diesem Zeitpunkt, blieb der Karrierezyklus unvollendet.

(2)

Die hohen Aufwandsnormen für die Ausbildung der Söhne, die bis zu ihrer eigenen Tätigkeitsausübung im Erwachsenenalter unterstützt werden mußten, erschwerten das Ansparen einer Aussteuer für die Töchter bzw. die Bildung finanzieller Rücklagen für den Lebensabend der Witwe. Der Wunsch, wenigstens einem der männlichen Nachkommen eine Pfarrkarriere zu eröffnen, prägte die mittel- und langfristige Finanzplanung, obwohl die materiellen Ressourcen dies nur durch eine Konzentration aller Mittel auf diesen Aspekt der Lebensplanung zuließen.

Die Frauen im Pfarrhaus drohten, die Leidtragenden dieser Prioritätensetzung zu werden. Der Vergleich der Sozialprofile aller Söhne/ Schwiegersöhne mit der Berufsstruktur derjenigen, deren Väter vor dem vollendeten vierzigsten Lebensjahr verstarben, offenbart diese Zusammenhänge in ihrer ganzen Tragweite. Im Falle eines frühen Todes des Geistlichen konnten die Söhne damit rechnen, durch die korporative Solidarität der Pfarrschaft (z.B. Stipendien) aufgefangen zu werden, während die Töchter ohne ausreichende Aussteuer ihre Heiratschancen drastisch schwinden sahen.

Daß die Witwen unter diesem unvollendeten Karrierezyklus in besonderem Maße zu leiden hatten, belegt eine Analyse der Wohnverhältnisse der Witwengeneration am Ende des 17. Jahrhunderts, die in einer weiteren Datenbank aufgenommen wurden. Diejenigen Pfarrfrauen, die vor ihrem fünfunddreißigsten Lebensjahr (das entspricht in etwa dem vierzigsten Lebensjahr des Mannes in der Altersstruktur der ersten Ehen) verwitweten, kehrten beinahe ausnahmslos zu ihren Eltern zurück oder wohnten in bescheidenen Mietverhältnissen. Dagegen waren die älteren Witwen zwar keineswegs wohlhabend, doch wohnte die Mehrheit der Frauen, deren Mann später im Familienzyklus verstorben war, in eigenen Häusern bzw. besaßen eigenes Land in kleinerem Umfang. Historische - lebenszyklisch bedingte - Dynamik läßt sich damit methodisch durch eine Kontrastierung von unvollständigen und vollständigen Karriere- bzw. Familienzyklen durch den Computer einfangen.

(3)

Die ungünstigen geschlechterspezifischen Lebensperspektiven der Pfarrwitwe ergaben sich auch aus den Wiederverheiratungschancen nach dem Tod des Ehepartners. Um diese individuell erfahrenen Lebensbrüche in ihrer kollektiv erlebten Wirkung zu erfassen, erwies sich die Konzeption einer iterativen Betrachtung von Fünfjahresperioden als fruchtbar, bei denen die Einzelangaben zu Durchschnittswerten einer Pentade zusammengefaßt wurden, um die Zufälligkeiten des Einzeldatums auszugleichen. Während die Geistlichen noch bis ins hohe Alter durch ihr Sozialprestige und ihre Pfründe genügend Attraktivität ausstrahlten, um innerhalb weniger Monate erneut zu heiraten, waren die Wiederverheiratungschancen von Pfarrwitwen ohne Hofstelle oder Handwerksbetrieb äußerst gering.

War die Pfarrfrau zum Zeitpunkt der Verwitwung älter als fünfunddreißig Jahre, so war die lebenslange Witwenschaft wahrscheinlich. Fand sie erneut einen Geistlichen als Lebenspartner, so war dieser in der Regel zehn bis fünfzehn Jahre älter. Die große Altersdifferenz zwischen den Eheleuten, die auch schon bei ersten Ehen beobachtbar ist, konnte leicht in eine innereheliche Hierarchie umgemünzt werden. Es war die Frau, die sich in den bestehenden Haushalt einpassen mußte.

Nicht ihr Lebenszyklus, sondern der des Ehemannes entschied auch über die Familienplanung im Sinne möglicher kontrazeptiver Praktiken. Die altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern, die die Zahl der Geburten pro durchlebte Ehejahrfünfte (multipliziert mit 1000) angeben, stellen für den Demographen einen deutlichen Hinweis auf geburtenbeschränkende Verhaltensweisen dar, die aus narrativen Quellen nicht zu entnehmen sind. Die Computeranalyse bietet in diesem Kontext also mehr als nur eine Quantifizierung von Individualerfahrungen, sie allein kann die Aussagen über lebenszyklische Phasen der Geburtenbeschränkung erbringen.

In ersten Ehen setzten kontrazeptive Maßnahmen offenbar erst in der Lebensphase der Frau zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahren ein, da die Kurve hier beinahe linear fällt, statt wie erwartet konvex zu verlaufen. Dagegen weisen die Geburtenzahlen für die zweiten Ehen besonders in der fruchtbarsten Phase der Frau zwischen zwanzig und dreißig Jahren deutlich niedrigere Geburtenhäufigkeiten auf, so daß man annehmen muß, daß in diesen ehelichen Verbindungen kontrazeptive Praktiken bereits in einer frühen Lebensphase der Frau angewandt wurden.

Historische lebensweltliche Dynamik ist also kein unlösbares Computerproblem, vielmehr bietet die EDV über die Belegfunktion hinaus die Möglichkeit, individuelle Erfahrungen zu kollektiven Erlebnissen zu objektivieren. Die Geschichtswissenschaft wird trotz ihrer Abkehr von der Strukturgeschichte und ihres Trends zur Mikrohistorie, zur erzählenden Darstellung der Alltags- und Lebenswelt der Geschlechter, nicht auf den Computer verzichten können.


aus: Protokoll des 66. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 10. Februar 1996