Aus dem Protokoll des 71. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 29. November 1997

 

Harald Schweizer (Tübingen)

Qualitätsmessung bei Übersetzungen? Aspekte der Theorie und Werkstattbericht

1. Hinführung

Das Thema dürfte für die meisten utopisch klingen. Kennt doch jeder nicht nur Beispiele für extrem unterschiedliches Übersetzen - einerseits wird einer sklavischen Wörtlichkeit gehuldigt, andererseits begegnen Übersetzungen in großer Freiheit, so daß die Grenze zwischen Übersetzung und Übertragung/Neuschöpfung undeutlich wird. Aber nicht nur dieser Befund, sondern auch die dazugehörigen Theorien/Rechtfertigungen sind bekannt. Demnach kann eine extrem wörtliche Übersetzung als sprachliches Armutszeugnis des Übersetzers bezeichnet werden. Dagegen steht, daß etwa über die Jahrzehnte hinweg die Übersetzung der hebräischen Bibel durch Buber/Rosenzweig nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat. Große Wörtlichkeit scheint also doch mit sprachlicher Gestaltungskraft kompatibel zu sein. Ein anderer Hinweis zielt auf unterschiedliche Rezipientenkreise, unterschiedliches Sprachvermögen, unterschiedliche Verwendungszwecke. Bei wichtigen Texten benötige man Übersetzungen verschiedenen Typs. Und im übrigen gibt es das Schlagwort von der "übersetzerischen Freiheit". Wer übersetzt, ist nicht nur Sklave des Quelltextes, sondern ... ?

Ich breche diese einführenden Bemerkungen hier ab. Ich will mich nicht im Grundsätzlichen verlieren, sondern eine Sondersituation vorstellen und beschreiben. Aus den hierbei gewonnenen Erfahrungen habe ich für mich sehr wohl ins Grundsätzliche reichende Schlüsse gezogen. Ich werde sie am Schluß nennen.

Die Sondersituation besteht darin, daß wir inzwischen zu einem einzigen Quelltext - der hebräischen Josefsgeschichte (Gen 37-50) - über fünf verschiedene eigene Übersetzungen verfügen.

Arbeitsübersetzungen Ziel-Übersetzung
1. THLI 4 (1991): deutsch
angestrebt: große Wörtlichkeit.
Grundlage: Textkritik, Übersetzungsbegründung,
Literarkritik   ==> 1.1 JOSEPH (1993): deutsch.
Angestrebt: Wörtlichkeit,
aber ein wenig dem heutigen Deutsch angepaßt,
weniger schroff als die Mutterübersetzung.
   
1.1.1 französisch
1.1.2 englisch
Versionen, je von Muttersprachlerinnen
übersetzt in dem Bestreben,
der vorgegebenen deutschen Version
möglichst genau zu entsprechen
und dabei auf die Erfordernisse
der eigenen Sprache zu achten.
   
2. THLI 7 (1995): deutsch
"morph-analog", d.h. völlig hebraizistisches Deutsch.
Die Wörtlichkeit von THLI 4 wird überboten.
Die Zahl der Wortformen der
JG (2512) wird exakt auch im Deutschen
abgebildet, auch in genau der entsprechenden
Reihenfolge. Proklitische und enklitische
Elemente werden in der deutschen
Übersetzung an der entsprechenden Stelle
sichtbar gemacht.

Zur Sondersituation gehört auch, daß es neben den Übersetzungen ausführliche Grammatikanalysen des hebräischen Quelltextes gibt. In Form von Datenbankabspeicherungen stehen - den Ebenen Semantik und Pragmatik folgend - mehrere tausend Datensätze zur Verfügung.

2. Fragestellung und Theorie

Es wäre sträflich, diesen komfortablen Befund nicht zu nutzen, und zwar in doppelter Richtung:

Die zunächst völlig verschieden erscheinenden Fragen sind - das möchte ich hier zeigen - miteinander verbunden. Ich ging allerdings von vornherein davon aus, daß eine Orientierung an den Ausdrucksseiten der verschiedenen sprachlichen Versionen, den strings, dem expliziten Wortmaterial und seiner Verkettung nicht weiterführt. Auf Ausdrucksebene liegen ja gerade die Differenzen zwischen den Sprachen, wogegen einzelne inhaltiche Funktionen in allen beteiligten Sprachen aussagbar sind. Auch ist zu berücksichtigen, daß die Relation zwischen einer inhaltlichen Funktion und den einzelsprachlichen Ausdrücken je verschieden ist. Wo die eine Sprache die Funktionen "abgeschlossen in der Vergangenheit" durch eine spezielle "Konjugationsart" allein realisiert, braucht die andere vielleicht "Konjugationsart + Adverb" oder "Konjugationsart + Nebensatz" für dieselben inhaltlichen Funktionen.

All dies ließe sich semiotisch oder systemtheoretisch leicht erläutern. Ich verzichte darauf, weil ich annehme, damit doch nur offene Türen einzurennen. Die praktische Folgerung für uns war: Keine Orientierung an der Ausdrucksseite. Das Postulat sollte dagegen sein: Ist eine inhaltliche Funktion, die bei der Beschreibung des Quelltextes erhoben worden war, in der entsprechenden Zielübersetzung realisiert? Oder blieb die inhaltliche Funktion unübersetzt? Oder enthält die Zielübersetzung inhaltliche Funktionen, die durch die Analyse des Quelltextes nicht gedeckt sind?

Mit der Orientierung an Semantik und Pragmatik anstelle der Wortketten und ihrer Elemente entfallen Postulate, die man etwa unter dem Stichwort "konkordantes Übersetzen" kennt. Es ist aus angedeuteten Gründen nicht zu rechtfertigen, daß man verlangt, ein Wort des Quelltextes müsse immer gleich in der Zielsprache wiedergegeben werden. Dadurch wird die Zielsprache durch die Quellsprache geknebelt, kann nicht ihrer eigenen Struktur folgen. Etwas anderes ist es, wenn Gestaltungen der Ausdrucksseite in der Quellsprache (z.B. Alliteration, Assonanz, Reime, Rhythmus) möglichst auch in der Zielsprache nachgebildet werden. Dies wird oft schwierig sein. Jeder Versuch in dieser Richtung ist zu respektieren. - Solche Gestaltungen der Ausdrucksseite müßten zusätzlich zur aktuellen Thematik mitbedacht werden.

Die Abkehr vom platten Vergleich zweier Wortketten, stattdessen die Hinwendung zu inhaltlichen, grammatischen Funktionen, die beim Übersetzen erhalten bleiben müssen - das wird seit nunmehr längerer Zeit von verschiedenen Seiten gefordert. Es hängen an solchen Übersetzungstheorien also immer auch Grammatikkonzepte, die vorschlagen, wie man denn beim Quelltext die inhaltlichen Funktionen erheben könne, so daß exhaustiv alles, was wichtig ist, erkannt wird. Die Diskussion dieser Vorschläge kann hier nicht geführt werden. Jedenfalls basieren auch unsere Analysen auf einer elaborierten Grammatikkonzeption. Sie folgt für die inhaltlichen Funktionen den Ebenen: Semantik und Pragmatik.

Bei der geschilderten Orientierung zeichnet sich ein Maßstab für eine Qualitätsmessung ab. Während ich beim bloßen Vergleich zweier Ausdrücke: Hebräisch - ##beth##{ ("Haus"), deutsch - "Tempel" u.U. weitschweifige Diskussionen führen muß, inwiefern es berechtigt ist, an einer bestimmten Stelle den hebräischen Ausdruck mit "Tempel" wiederzugeben - und damit die historische Metapher zu zerstören -, bin ich nun gehalten - weil es für den hebräischen Befund einen Datensatz "Metapher" gibt - diese inhaltliche Funktion auch im Deutschen zu erhalten: Es wird dann auch in der Zielsprache der Eindruck erweckt, Gott wohne in einem gewöhnlichen Haus, nicht in einem, das bereits terminologisch als Sonder-Gebäude erkennbar ist. Damit bremst mich die auf den Quelltext bezogene Analyse angesichts der omnipräsenten Gefahr, den Quelltext verdeutlichen, erklären oder kommentieren zu wollen. Kein Übersetzer ist gefeit davor, den Oberlehrer spielen zu wollen. Eine vorausliegende Analyse des Quelltextes kann Dämme gegen diese Tendenz errichten.

3. Semantisch-pragmatische Analysen

3.1 Grundstruktur der Bedeutungsanalyse

Vorausgesetzt ist, daß der Text in Äußerungseinheiten segmentiert wurde. Jede dieser kommunikativen Einheiten wird befragt, ob sie satzhaft (phrastisch) oder nicht satzhaft (aphrastisch) ist. Im ersten Fall folgen Analysen nach den im Schema angedeuteten Kategorien. Hinter jeder einzelnen steht ein Terminologiebaum, den wir hier übergehen.

3.2 Mehrere Interpretationsebenen

Es sei hier nur angedeutet, daß in unserem Konzept eine Bedeutungsanalyse nicht nur einmal vollzogen wird. Meist enthält der Sprachgebrauch Indizien für eine zweite, gemeinte Bedeutung. Diese gilt es genauso zu beschreiben wie die wörtliche Bedeutung. Die Bewegung von dieser zur gemeinten Bedeutung wird methodisch durch die Abfolge verschiedener Interpretationsebenen charakterisiert:

Semantik ==> Textgrammatik ==> Textlinguistik ==> Textpragmatik
In den Datensätzen erscheinen diese Ebenen unter den Kürzeln: Semantik, TxtGr, TxtLi, TxtPr. Auch hier verzichte ich auf Details.

4. Links zwischen Datensätzen und Arbeitsübersetzung (2)

Informatisch gesehen ist die Mittlerfunktion der "morph-analogen Arbeitsübersetzung" von großer Wichtigkeit. Der sklavische Transfer der hebräischen morphologischen Struktur ins Deutsche - hier gilt auch noch das Postulat des "konkordanten" Übersetzens - öffnet die Tür für die spätere Einbeziehung der deutschen Zielübersetzung wie der anderen Zielübersetzungen. Zunächst ist die Aufgabe lediglich, die auf den hebräischen Buchstabenbefund bezogenen Adressierungen auf die sklavische Arbeitsübersetzung anzuwenden. Die Adaption kann automatisch erfolgen.

Die Ergänzung des Buchstabenzählens durch die Gruppenbildung ( "Segment 2") stellt die Äquivalenz zwischen den Sprachstrukturen her. Nun gelten mehrere tausend Datenbankanalysen nicht mehr lediglich fürs Hebräische, sondern auch für eine erste deutsche Version.

5. Links zwischen Arbeitsübersetzung (2) und Zielübersetzung

Nun ist der verstehende Sprachbenutzer gefragt, der - computerunterstützt - links zwischen den Übersetzungen einrichtet. Die Computerunterstützung, die immer die Kontrolle durch den menschlichen Benutzer einschließt, kann - vor dem Hintergrund von Standardtechniken (Fenster, verschiedene optische Markierungen, diverse Such- und Verzeigerungsverfahren) - folgendes umfassen:

Entscheidungen, die einmal getroffen wurden, können automatisch auf die gleichen Fälle beim restlichen Text übertragen werden.

Es wird bei jedem Schritt registriert, wieviele Textsegmente noch keinen link zu einer bestehenden semantisch-pragmatischen Analyse haben. Immer wenn eine Einheit noch offen ist, kann dieser link zur bereitliegenden Analyse automatisch angeboten und - nach überprüfender Kontrolle - bestätigt werden.

Im Rahmen dieser Entscheidungen werden Listen angelegt. Mit ihrer Hilfe wird jede weitere Entscheidung "erfahrungsgesättigter", insofern als frühere Analysevorschläge angeboten werden. Aus diesen kann ausgewählt werden, sie können aber auch um neue Varianten erweitert werden.

Dem Benutzer, der zwischen zwei Versionen desselben Satzes links einrichtet, werden in einem zweiten Fenster immer auch die dazugehörigen Datenbankanalysen präsentiert. Diese Erinnerungs- und Vergewisserungsfunktion ist wichtig angesichts des komplexen Beschreibungssystems.

Die Kontrollfrage ist also je: Durch welche Ausdruckselemente der Zielsprache werden inhaltliche Funktionen, die für das Hebräische erhoben worden waren, in der deutschen Zielübersetzung realisiert? Oder wurden sie womöglich vergessen zu übersetzen? Oder kamen neue Funktionen hinzu, die keinen Rückhalt am hebräischen Original haben?

6. Auswertung: Qualitätskontrolle

In einem Akt öffentlicher Zerknirschung muß ich gestehen, daß ich mit meiner eigenen deutschen Zielübersetzung nicht mehr zufrieden bin, seit ich sie mit unserem Programm untersuchte. Es ist zwar alles eine Frage des Maßstabs. Um eine in hohem Maß originalgetreue Übersetzung handelt es sich nach wie vor. Aber die computergestützte Feineinstellung der Lupe hat doch eine Fülle von Fehlertypen bzw. Verschiebungen geoffenbart, die mir zuvor nicht bewußt war. Ich nenne einige Beispiele (o.E. = "ohne Entsprechung"):

  (087) 1.AKTANT ist ursprünglich EXPLIKATION
  (014) 1. AKTANT ohne Entsprechung im Hebr.
  (003) 1. AKTANT der hebr. Version wird verschluckt
  (013) 1. AKTANT/impersonal: 'Es'
  (086) 1. AKTANT: Inkongruenz im Numerus
  (017) 2. AKTANT als Infinitiv wiedergegeben
  (065) 2. AKTANT nicht übernommen
  (075) 2. AKTANT überschüssig
  (044) ADJUNKTION/2. AKTANT nicht übernommen
  (095) ADJUNKTION: 'kopulativ' durch 'adversativ' ersetzt
  (093) ADJUNKTION: 'kopulativ' durch 'kausal' ersetzt
  (041) ADJUNKTION: Besitzanzeiger unübersetzt
  (033) ÄQUIVALENZanzeiger aus hebr. Konstruktion erschlossen
  (022) Aspekt DAUER der Dislokation transferiert
  (071) Aspekt DAUER ins Deutsche übernommen
    . . .

Mehr als 100 solcher korrigierender oder zumindest skeptischer Anmerkungen kamen beim Vergleich von Arbeitsübersetzung (2) und deutscher Zielübersetzung zustande. Nicht jeder Eintrag in dieser Liste entspricht einem Übersetzungsfehler. Manchmal können/dürfen stilistische Eigenarten hebräischer Narrativik nicht im Deutschen beibehalten werden. Es bleibt aber als Fazit bestehen, daß sich in die Zielübersetzung vielerlei Verschiebungen auf der Ebene semantisch-pragmatischer Funktionen eingeschlichen haben, die nicht notwendig sind, die es folglich zu korrigieren gälte.

Was laut Liste nur von trocken-grammatischer Relevanz zu sein scheint, ist im einzelnen sehr wohl relevant für das Verständnis der jeweiligen Textstelle. Auch hierfür ein Beispiel:

In Gen 50,18b wird im Originaltext gesagt, daß die Brüder vor Josef "(nieder-)fielen". Eine im Kern also "fientische" Aussage, so, wie wenn eine Flasche zu Boden fällt und dann zerschellt. Ein ungesteuerter Prozeß, keinerlei Absicht und Wille ist im Spiel. "Es" passiert eben so. - In der Zielübersetzung formulierte ich, daß die Brüder vor Josef "sich niederwarfen". Das klingt nun absichtlicher und vom Willen gesteuert. Mir war schon klar, daß das Hebräische genau für diese Nuance auch ein eigenes Wort hätte. Aber eher halbbewußt lief wohl folgende Argumentation: daß die Brüder umfielen wie Bäume, klingt doch etwas merkwürdig; außerdem - was macht man bei Hofe in einem Herrschaftssystem des Alten Orients? Man wirft sich nieder. Das schreibt das Protokoll vor.

Die Arbeit mit dem Programm für Übersetzungsvergleich zwang mich, erneut die Stelle - nun bewußter - anzuschauen. Dabei fiel mir auf, daß die Brüder unmittelbar zuvor geistig ausgesprochen kraftlos sind. Voller Angst, Josef werde sich an ihnen wegen ihrer früheren Schandtaten rächen, beginnen sie räsonnierend einen Bedingungssatz, brechen aber ab, können die Apodosis nicht mehr formulieren. Dazu reicht vor Angst die Kraft schon nicht mehr. Stattdessen wird die Ebene gewechselt: Von der strategischen Überlegung zur äußeren Tat, zum Eingeständnis der eigenen Schuld. Die Brüder gehen zu Josef und - so ist zu folgern - unterwerfen sich nicht lediglich einem Hofzeremoniell. Sondern indem der Autor schrieb: "sie fielen nieder" im Sinne von "sie brachen zusammen" drückte er aus - im Hebräischen deutlicher als im Deutschen - , daß die Brüder mit ihren Kräften am Ende waren. Von ihnen ist keine Selbstrechtfertigung mehr zu erwarten, ihre Schuld hat sie innerlich erreicht und sie gelähmt. Dies wiederum ist Voraussetzung für die abschließende und endgültige Versöhnung, mit der die Josefsgeschichte dann schließt.

Kurz gesagt: die scheinbar harmlose Akzentverschiebung (statt "fientisch" nun "initiativ") nivelliert an dieser Stelle die Tendenz des Gesamttextes. Es wäre besser gewesen, hier ganz eng am Original zu bleiben.

7. Einbeziehung weiterer Zielübersetzungen

Ich erwähnte, daß wir - abgeleitet von der deutschen Zielübersetzung - über eine französische und eine englische Zielübersetzung der Josefsgeschichte verfügen. Diese Versionen können ihrerseits nach ihrem Verhältnis zum hebräischen Original befragt werden. Sie enthalten allerdings in hohem Maß die Abweichungen, die schon die deutsche Zielübersetzung bietet, von der sie abhängen.

Aber wir brauchen ja nicht auf die Abweichungen fixiert zu bleiben: Der positive Befund ist, daß wir nun für eine quantitativ erhebliche Zahl deutscher, französischer und englischer Ausdrücke einheitliche Bedeutungsanalysen nach unserem Beschreibungssystem besitzen. Damit muß unsere Vorstellung von Semantik und Pragmatik nicht beim Nullpunkt beginnen, sobald deutsche, englische oder französische Texte untersucht werden. Stattdessen steht ein beachtliches Beispielreservoir zur Verfügung, dessen Herkunft aus der Josefsgeschichte im Einzelfall nicht mehr erkennbar ist.

Obwohl ursprünglich nicht so projektiert, kann man nun doch sagen, daß die Arbeitsübersetzung (2) zusammen mit den Datenbankanalysen als Interlingua-Ebene fungiert, die zwischen den vier Einzelsprachen den Übergang vermittelt.

Ohne daß ich den Aspekt hier verbreitern wollte, kommen wir damit in die Fragestellung des automatischen Übersetzens hinein. Oder zur Frage, warum dabei bislang allenfalls Texte vom Typ "Wetterbericht" gemeistert werden, keinesfalls Texte von einem gewissen literarischen Anspruch. - Vielleicht liegt es daran, daß die Interlingua-Ebene metasprachlich zu wenig elaboriert war und zu wenig Erprobungen vorlagen.

8. Thesen zum Thema "Übersetzung"

Ich hatte eingangs versprochen, am Schluß einige allgemeinere Erkenntnisse aus unserer Arbeit zu formulieren. Das soll anhand von vorläufigen Thesen geschehen:
  1. Wer übersetzt, sollte nachweisen (können), daß er den Quelltext grammatisch präzis wahrgenommen hat. Dieser Nachweis kann durch explizite Grammatikanalysen und/oder eine sklavisch-wörtliche Arbeitsübersetzung geschehen. - Diese - manchen trivial erscheinende - Rückbindung an das Original muß betont werden, da es Übersetzungstheorien gibt, die den Quelltext geradezu vernachlässigen und nur die Versionen der Zielübersetzungen miteinander vergleichen.
  2. Nicht im allgemein-grundsätzlichen und lamentierenden Sinn, sondern nun mit der Möglichkeit der Qualitätskontrolle im Detail: Übersetzungen werden immer nur mehr oder weniger starke Annäherungen an das Original sein.
  3. Für mich wurde die Trennlinie schärfer zwischen Versuchen, die das Original erreichen wollen - dafür verwende ich weiterhin den Terminus "Übersetzung" -, und Gestaltungen, die Sprache und Interessen der vermittelnden Person deutlicher einbringen. Der letztere Fall ist allenfalls eine "Übertragung" oder eine "Neuschöpfung".
  4. Dasselbe hermeneutisch ausgedrückt: Müht sich der Übersetzer, daß sein Text viel von der Struktur des Quelltextes vermittelt, so daß er mir hilft, möglichst direkt mit dessen Aussageabsicht konfrontiert zu sein - mit dem Nebeneffekt, daß der Übersetzer als vermittelnde Instanz zurücktritt? Oder zeigt ein Vergleich mit dem Quelltext, daß die sogenannte Übersetzung neue Gestaltungselemente enthält, die im Original nicht verifizierbar sind? In diesem Fall tritt die Individualität des Übertragenden zwischen Quelltext und mich, wobei diese Individualität sich zeigt als eigenständig gestalten wollender Künstler, als gängelnder Oberlehrer, als vorlauter Interpret - und was es an Haltungen, auf sich aufmerksam zu machen, sonst noch geben mag. In solchen Fällen rede ich von "Übertragung".
  5. Nicht lediglich der fiktionale Gehalt eines Textes, die story, die sachliche Grundinformation ist in die Zielsprache zu retten, sondern auch die grammatikalisch-stilistische Weise, wie der Gehalt zur Sprache kommt. An diesen strukturellen Details hängt die Emotionalität, mit der formuliert wird. Nur so entsprechen sich Quell- und Zieltext auch im "Ton".
  6. Zwar redete ich nicht dem Ideal des "konkordanten Übersetzens" das Wort. Aber auf der anderen Seite stehen vielfältige Erfahrungen, daß selbst bei nicht-verwandten Sprachen (z.B. Hebräisch und Französisch) auch ausgefallene Sprachstrukturen - z.B. Nominalsätze, Interjektionen - meist problemlos übernommen werden können. Wer hiervon meint abweichen zu müssen, ist also begründungspflichtig.
  7. Das Schlagwort von der "übersetzerischen Freiheit" - wohlgemerkt nicht das von der "Freiheit des Übertragenden, Nachschaffenden" - ist also daraufhin zu prüfen, ob es nicht doch nur ein Vorwand dafür ist, es mit dem Original nicht allzu genau nehmen zu müssen.
  8. In Handbüchern zur Übersetzungstheorie findet sich die Entgegensetzung: Wer mehr auf den Quelltext orientiert sei, verlange große Wörtlichkeit der Übersetzung, wem mehr an der Verstehbarkeit der Zielübersetzung liegt, der räume größere Freiheiten ein. Auf dem Hintergrund unserer Erfahrungen glaube ich, daß es sich dabei um eine Scheinopposition handelt: Treue zum Original und akzeptable Verstehbarkeit in der Zielsprache sind in hohem Maß verbindbar.

Literaturhinweise

Schweizer, Harald:
Josefsgeschichte. Konstituierung des Textes. Teil I: Argumentation. 1991. - THLI 4/1. Teil II: Textband. THLI 4/2.- Tübingen: Francke - Reihe THLI = Textwissenschaft, Theologie, Hermeneutik, Linguistik, Literaturanalyse, Informatik.
Ref.:
THLI 4 (1991)
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Schweizer, Harald:
JOSEPH. Urfassung der alttestamentlichen Erzählung (Gen 37-50). Mit Photocollagen von Jonas Balena.- Tübingen: Klöpfer & Meyer 1993. - Ref.: JOSEPH (1993)
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Schweizer, Harald:
Revidierte, morph-analoge Arbeitsübersetzung.- In: SCHWEIZER, Harald (Ed.): Computerunterstützte Textinterpretation. Die Josefsgeschichte beschrieben und interpretiert im Dreischritt: Syntax-Semantik-Pragmatik. THLI 7/i-iii.- Tübingen: Francke 1995: 1-39 (ii). - Ref.: THLI 7 (1995)
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Schweizer, Harald:
Der Computer und Übersetzungen unterschiedlich starker Wörtlichkeit.- In: Actes du cinquième Colloque International 'Bible et Informatique: "Translation et Transmission"', Aix-en-Provence 1-4 septembre 1997. Paris: Champion 1998: 95-112.


aus: Protokoll des 71. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 29. November 1997