Aus dem Protokoll des 86. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 23. November 2002

 

Friedrich Seck (Tübingen):

Zur Edition der Korrespondenz eines Universalgelehrten:
Wilhelm Schickards Briefwechsel
(1)


1. Die Entwicklung des Briefwechsels

"Astronom, Geograph, Orientalist, Erfinder der Rechenmaschine": so wird Wilhelm Schickard im Untertitel einer ihm gewidmeten Monographie wohl einigermaßen treffend genannt. Um die Edition seines Briefwechsels soll es hier gehen, darum seien zunächst seine Lebensstationen im Hinblick auf den Briefwechsel umrissen, bevor ich auf die Edition selbst und ihre technische Realisierung zu sprechen komme.

Schickard wurde 1592 als Sohn des Werkmeisters - das entspricht nach einer Feststellung des Herrenberger Stadtarchivars Dr. Roman Janssen etwa dem Verwalter eines städtischen Bauhofs - Lukas Schickhardt in Herrenberg geboren; sein Onkel Heinrich Schickhardt war der bedeutende Architekt in herzoglichen Diensten - und, nach den Erwähnungen im Dehio zu urteilen, der bedeutendste Architekt, den Württemberg je gehabt hat -, sein Großvater Wilhelm Gmelin Pfarrer in dem benachbarten Dorf Gärtingen. Zehnjährig verliert der Knabe den Vater. Er wird zum Theologiestudium bestimmt und 1610 in das Tübinger Stift aufgenommen. (2)   Früh zeigen sich mathematische Interessen; schon Mitte 1611 besitzt der Neunzehnjährige die "Revolutiones orbium coelestium", das Hauptwerk des Copernicus. (3)   Mathematik - und sie umfaßt im 17. Jahrhundert noch ganz selbstverständlich die Astronomie - gehört zu den Fächern der Philosophischen Fakultät, die vor den höheren Fakultäten - Theologie, Jura, Medizin - besucht werden mußte und mit der Magisterprüfung abgeschlossen wurde. Schickards Lehrer war derselbe Michael Mästlin, von dem 20 Jahre zuvor schon Johannes Kepler die Astronomie gelernt hatte. Schickard wird 1611 Magister, 1613 Vikar in Herrenberg und Kirchheim unter Teck (wo er seine spätere Frau kennenlernt) und schließlich Repetent des Hebräischen am Tübinger Stift.

Im folgenden Jahr erhält er seine erste und einzige Pfarrstelle, genauer ein Diakonat (Diakon hieß der zweite Geistliche an einer Kirche neben dem Pfarrer) in Nürtingen. Der früheste erhaltene Brief ist vom 5. August 1616 und hat dienstlichen Inhalt: Schickard ist heiser und bittet, die Wochenpredigt am folgenden Tag ausfallen lassen zu dürfen. Anlaß und Thema sind trivial, aber: der Brief ist an einem Montag geschrieben, die Wochenpredigt (d.h. die immer an einem Wochentag, im Gegensatz zum Sonntag, regelmäßig gehaltene Predigt) findet also 1616 in Nürtingen dienstags statt, in Übereinstimmung mit der noch 1799 geltenden und bei Binder überlieferten Regelung. (4)   Nürtingen war Witwensitz der Herzogin Ursula, der Witwe Herzog Ludwigs von Württemberg. Sie wurde Patin der beiden in Nürtingen geborenen Kinder Schickards und war für ihn auch Mittelsperson zum Stuttgarter Hof. Schickard pflegte weiter seine wissenschaftlichen Interessen, lernte, wie anläßlich einer Kirchenvisitation lobend erwähnt wird, Syrisch durch Lektüre eines syrischen Neuen Testaments, schrieb sich eine syrische Grammatik und trieb wohl etwas weniger Mathematik als früher, bis ihn im Herbst 1617 der schon berühmte Johannes Kepler besuchte, der aus Linz nach Württemberg gekommen war, um seiner Mutter in dem sich anbahnenden Hexenprozeß beizustehen. Kepler findet Gefallen an dem jungen Mann: ein Brief an den kaiserlichen Rat Wacker von Wackenfels zeigt es. Und weil Schickard ein vorzüglicher Zeichner ist, vertraut ihm Kepler die Illustrationen zur zweiten Hälfte seiner "Epitome astronomiae Copernicanae" an. Wenig später zeichnet Schickard auch die Holzschnitte und ätzt die Radierungen zu Keplers "Harmonice mundi". Dies und andere mathematische, astronomische und physikalische Fragen, auch persönliche Angelegenheiten sind Gegenstand des anfangs sehr lebhaften Briefwechsels - und natürlich Schickards Rechenmaschine.

Schickard beobachtet die drei Kometen des Jahres 1618 und schreibt eine ausführliche Darstellung über Kometen für Herzog Johann Friedrich, der damit ihn beauftragt hatte und nicht etwa den Tübinger Astronomen Mästlin. Schon Anfang 1618 weiß Kepler, daß Schickard einen Ruf an die Universität zu erwarten hat. Tatsächlich wird er Ende des Jahres auf den Lehrstuhl für Hebräisch berufen, lehnt zunächst ab, nimmt dann ein auf Drängen der Regierung verbessertes Angebot an und ist im August 1619 Professor Hebraeus in Tübingen. Insgeheim hatte man ihm auch die Anwartschaft auf den Lehrstuhl der Astronomie eröffnet.

1620 beginnt der Briefwechsel mit dem Professor der Geschichte in Straßburg Matthias Bernegger: Schickard teilt ihm auf Keplers Wunsch dessen Beobachtung einer Mondfinsternis mit. Daraus entwickelt sich eine enge Brieffreundschaft zwischen Bernegger und Schickard: sie tauschen ihre jeweils neuesten Werke aus, empfehlen einander reisende Studenten, Bernegger besorgt Bücher für Schickard und für die Universität, bringt Schickards "Ius regium Hebraeorum" bei einem Straßburger Verleger unter und schenkt ihm einen Koran, Schickard prüft Berneggers lateinische Übersetzung von Galileis "Dialogo". Fragen der Kirchenpolitik, ja eine mögliche Berufung Schickards nach Straßburg kommen zur Sprache, und obwohl sich die beiden nie gesehen haben, nennt Bernegger doch Schickard anderen gegenüber seinen besten Freund.

Schickard entwickelt sich zur hebraistischen Koryphäe und tritt in Briefwechsel mit Paul Tarnow in Rostock, Peter Kirsten in Breslau, David Clericus in Genf, vor allem aber mit dem bedeutendsten Hebraisten seiner Zeit, Johannes Buxtorf in Basel, später auch mit dessen gleichnamigem Sohn. Ein oft, allerdings nicht gegenüber Buxtorf behandeltes Thema ist das Alter der hebräischen Punktation, also der Vokalzeichen, das damals unter Hebraisten und Theologen heiß diskutiert wurde: War die Punktation jünger als die Buchstaben des Bibeltextes, so geriet die Autorität des Alten Testaments ins Wanken. Der ältere Buxtorf vertrat entschieden den traditionellen Standpunkt, Schickard war, wie viele jüngere Hebraisten, davon überzeugt, daß die Punktation eine spätere Zutat sei.

Auch auf dem Gebiet der Astronomie und Mathematik blieb Schickard tätig, besonders hielt er Privatvorlesungen, weil ihm öffentliche in Konkurrenz zu Mästlin verwehrt waren. Der Augsburger Jurist Julius Schiller begann 1623 einen Briefwechsel über die Konfessionsgrenzen hinweg, weil er in Schickard einen Bundesgenossen bei dem Versuch sah, die heidnischen Namen der Sternbilder und Planeten durch christliche zu ersetzen, z.B. die Namen der zwölf Tierkreiszeichen durch die der Apostel. Schillers Briefe gehören zu den wenigen, die Schickard vor 1626 aufbewahrt hat; aus unbekanntem Grund hat er fast alle älteren Briefe, selbst die von Kepler, vernichtet oder aus der Hand gegeben.

Daran wird es auch liegen, daß der Briefwechsel mit Daniel Mögling für uns erst 1625 einsetzt. Mögling, Enkel des gleichnamigen Tübinger Medizinprofessors, hatte in Tübingen, Altdorf und Wittenberg studiert und war gleich nach seiner Promotion 1621 als Leibarzt des nicht souveränen, sehr gebildeten und besonders an der Astronomie interessierten Landgrafen Philipp von Hessen in Butzbach eingestellt worden mit der Maßgabe, "auch in rebus mathematicis sonderlich in observationibus Astronomicis ... sich gutt williglich gebrauchen" zu lassen. (5)   Mögling wird den fast auf den Tag genau vier Jahre älteren Schickard beim Studium in Tübingen (1611 bis 1615 und 1618 bis 1621) kennengelernt haben. Bei den anstehenden astronomischen Aufgaben konnte er die Hilfe des Freundes gut gebrauchen. Er bat Schickard immer wieder um die Mitteilung einfacher Beobachtungsmethoden und um Konstruktionen von Instrumenten, erbat und erhielt Methoden zur Kreisquadratur, dachte sich aber auch selbst alle möglichen Maschinen, auch perpetua mobilia aus, die er Schickards Kritik unterwarf. Möglings Dienstherr, der Landgraf, setzte Schickard für diese Dienste ein Gehalt aus und erwog sogar, ihn als Hofprediger nach Butzbach zu berufen, was ein um Schickards Rechtgläubigkeit und des Landgrafen Seelenheil besorgter Gießener Theologe zu verhindern wußte. (6)   Ganz nebenbei kommt in einem Brief heraus, daß Mögling - und nicht Opitz, wie mancher lange gemeint hat - die "Arcadia", einen seinerzeit sehr berühmten Schäferroman des Sir Philip Sidney, ins Deutsche übersetzt hat. (7)   Diese Erkenntnis war für einige Germanisten geradezu sensationell. Leider ist der Briefwechsel mit Mögling ganz einseitig überliefert: wir besitzen 52 Briefe von Mögling an Schickard, dagegen von Schickard an Mögling nur Stichwörter zu drei Briefen.

Zu Martini 1627 war Schickards jüngerer Bruder Lukas als Erzieher des Prinzen Friedrich, jüngeren Bruders des künftig regierenden Herzogs Eberhard, eingestellt worden. Damit hatte Schickard einen zuverlässigen Mittelsmann am Hof. Schickards Briefe an den Bruder liegen teils in Auszügen, teils in vollständigen Abschriften aus dem 18. Jahrhundert in einer Tübinger Handschrift vor; sie zeigen mehr als andere Schickards Fühlen und Trachten, seine Pläne, seine Freuden und seine Enttäuschungen. Die Briefe aus den Jahren 1634 und 1635 an den inzwischen mit seinem Zögling in Frankreich reisenden Bruder geben erschütternde Einblicke in die Nöte des Dreißigjährigen Krieges.

Jahr für Jahr kommen neue interessante Briefpartner hinzu: 1627 der Ulmer Pfarrer und Gymnasialprofessor Ulrich Schmidt und der Orientalist und Bibliothekar der kaiserlichen Bibliothek in Wien Sebastian Tengnagel. Schmidt vermittelte die Verbindung zu Veit Marchtaler, Besitzer einer türkischen genealogischen Handschrift, die Schickard in seinem "Tarich" 1628 herausgab und kommentierte. Tengnagel besaß auch selbst eine ansehnliche Bibliothek, aus der er eine arabische Handschrift, die Geographie des Abulfeda, 1631 an Schickard auslieh. Schickard schrieb sie ab und legte auf den Gegenseiten eine lateinische Übersetzung an, die allerdings unvollendet blieb. Als im Juni 1631, im Kirschenkrieg, kaiserliche Truppen vor Tübingen lagen, vergrub Schickard das gute Stück zusammen mit eigenen Handschriften unter seinem Weinkeller, um es soldatischem Zugriff zu entziehen. (8)   Heute befindet sich Tengnagels Handschrift - mit wenigen aber unverkennbaren Benutzungsspuren von Schickard - in der Österreichischen Nationalbibliothek, während Schickards Abschrift 1672 unter Mitwirkung von Gottfried Wilhelm Leibniz nach Paris verkauft wurde und seit langem zum Bestand der Bibliothèque Nationale gehört.

Aus dem Jahr 1628 stammt der erste erhaltene Brief des anderen großen Herrenbergers, Johann Valentin Andreae. Schickard und Andreae kannten sich vom Studium her; es ist so gut wie sicher, daß sie einander schon vorher Briefe geschrieben haben - nur sind sie leider verlorengegangen. Von Schickard an Andreae haben wir übrigens keinen einzigen Brief, von Andreae an Schickard fünf, davon vier aus dem Jahr 1634.

Der berühmte Jurist Hugo Grotius - er lebt meist in Paris, weil er als Remonstrant in seiner holländischen Heimat Gefängnis und Schlimmeres befürchten muß - schreibt zum ersten Mal 1629 an Schickard. Er lobt dessen "Ius regium Hebraeorum" sehr und ermuntert ihn, ein ähnliches Buch über das Sanedrin, den jüdischen Rat, zu schreiben - Schickard hatte es im "Tarich" in Aussicht gestellt, doch blieb es ungeschrieben. (9)   Grotius ist gelegentlich auch Vermittler von Sendungen von und an andere Pariser Partner, bis sich Schickard der Kreis um den Philosophen und Astronomen Pierre Gassendi öffnet, der für ihn sehr wichtig werden sollte.

Zunächst war es Schickard dabei nur um Ortskoordinaten aus Frankreich gegangen, die er als Grundlage für geplante Landkarten benötigte. Länge und Breite der Orte wurden ja mit astronomischen Methoden bestimmt: die geographische Breite durch Messung der Höhe von Sternen, z.B. des Polarsterns, die Länge meist durch Vergleich der Ortszeiten, zu denen Mond- oder Sonnenfinsternisse an verschiedenen Orten beobachtet wurden. Dann schreibt Gassendi von einer geplanten Reise nach Konstantinopel im Gefolge des französischen Gesandten an der Pforte. Schickard ist hingerissen von der Aussicht auf verläßliche geographische Koordinaten aus dem Orient; er bittet Gassendi, die bevorstehende Mondfinsternis ja nicht zu versäumen, und gibt an, wie er die von der Reiseroute aus sichtbaren Orte vermessen kann. Die Reise fiel aus, aber das Jahr 1632 gab dem Verhältnis zwischen Gassendi und Schickard eine neue Wendung. Kepler hatte für den 7. November 1631 (neuen Stils) einen Durchgang des Merkur vor der Sonne berechnet und in einer kleinen Schrift (10)   die Astronomen in aller Welt aufgefordert, dieses seltene Ereignis zu beobachten. Kepler selbst war schon ein Jahr vor dem Merkurdurchgang gestorben, Schickard konnte ihn wegen schlechten Wetters nicht sehen. Gassendi hatte in Paris mehr Glück. Er beschrieb seine Beobachtung in drei Briefen an Schickard, die er auch drucken ließ. (11)   Schickard, der Anfang 1632 als Mästlins Nachfolger den Lehrstuhl für Astronomie zusätzlich zum hebräischen übernommen hatte, diskutierte Gassendis Beobachtungen sehr zustimmend in einem eigenen Büchlein, das im August 1632 in Tübingen erschien. (12)   Gassendi und sein Freund, der reiche Adlige Nicolas-Claude Fabri de Peiresc aus der Provence, Kunst- und Autographensammler und an wissenschaftlichen Fortschritten sehr interessiert, waren begeistert. Schickard wollte, so hatte er in seinem Büchlein geschrieben, sich in Zukunft mit der Merkurtheorie befassen, d.h. der mathematischen Beschreibung der Bewegung dieses schwierigsten Planeten, brauchte dazu aber Beobachtungen. So hatte ja auch Kepler mit Tycho Brahes Beobachtungen gearbeitet, ohne die er seine Planetengesetze niemals gefunden hätte. Gassendi intensiviert seine Beobachtungstätigkeit um den Faktor zehn (13)   und teilt Schickard seine Beobachtungen ungefiltert, d.h. aber auch unverfälscht, zu beliebigem Gebrauch mit. Beispiele solcher Großzügigkeit muß man lange suchen Gassendis erster Brief mit Merkurbeobachtungen vom August 1633 umfaßt im Druck 62 Seiten (siehe Abb. 1). Es folgten drei weitere Briefe dieser Art; zusammen nehmen sie 151 Druckseiten, das ist ein Siebtel des Textes der Briefedition ein. Einen fünften Brief brach Gassendi ab, als er von Schickards Tod erfuhr. Auch Schickard hinterließ übrigens einen unfertigen Brief an Gassendi, als er am 23. Oktober 1635 an der Pest starb.

Soweit dieser biographisch-epistolographische Abriß, der an Beispielen zeigen sollte, was alles wir aus Briefen und nur aus ihnen erfahren können. Natürlich konnte die Fülle der wissenschafts-, universitäts- und personengeschichtlichen Inhalte von Schickards Briefwechsel hier nur angedeutet werden.

2. Die Edition

Wenn wir uns nun der Edition des Briefwechsels zuwenden, so ist zunächst zu definieren, wie sie sein und wie sie angelegt sein soll. Sie sollte nach meinen Vorstellungen werden:
  1. vollständig,
  2. kritisch,
  3. übersichtlich und
  4. informativ.

Vollständigkeit soll bedeuten, alle erhaltenen Briefe von und an Schickard zu drucken und zwar jeden Brief vollständig, d.h. außer dem Text auch etwa erhaltene Zeichnungen und Beilagen, Zusätze des Briefverfassers, des Empfängers und ggf. anderer, durch deren Hände die Briefe gegangen sind, selbstverständlich auch die Adressen. Die Forderung nach Vollständigkeit spaltet sich also auf in zwei Forderungen: Es sollen alle Briefe herausgegeben werden und zwar jeder einzelne vollständig. Doch um die Briefe zu drucken, muß man sie erst einmal finden. Übliche Instrumente dazu sind gedruckte Handschriftenkataloge der Bibliotheken, Repertorien der Archive und Rundschreiben an die Institutionen, bei denen man einschlägiges Material vermuten kann. Leider erhält man auf Anfragen oft unzureichende Auskünfte, auch Fehlanzeigen bei vorhandenen Briefen, weil die Handschriftenbestände und Archivalien aus Personalmangel fast überall unzureichend erschlossen sind, also, grob gesagt, die Bibliotheken selbst nicht wissen, was sie haben; und Sie dürfen mir glauben, daß ich als Bibliothekar weiß, wovon ich spreche. Nachfassen aufgrund von Hinweisen in der Literatur, eigene Recherchen vor Ort (die man aber nicht in Hunderten von Bibliotheken unternehmen kann), selbstlose Hinweise anderer Gelehrter förderten so manchen Brief von Schickard zutage, der mir leicht hätte entgehen können. Außer den handschriftlich erhaltenen Briefen (wozu auch Abschriften gehören) dürfen die gedruckten nicht übersehen werden, einmal der Vollständigkeit der Überlieferung halber, vor allem aber solche Briefe, die wie die von Schickard an Bernegger nur im Druck überliefert sind. Die Vollständigkeit der Briefe ist ein kaum erreichbares Ideal; die bisherigen Erfahrungen lassen erwarten, daß weitere Briefe von und an Schickard auftauchen.

Die zweite Teilforderung - vollständige Wiedergabe jedes Briefes - ist nicht so selbstverständlich wie sie sich anhört. Oft wurden Briefe beim Druck zensiert - so Berneggers Briefwechsel von seinem Sohn -, Anreden und Grußformeln standardisiert. Auch in modernen Ausgaben wurden Tabellen und anderer Beilagen, wohl aus Bequemlichkeit, weggelassen. Den Vogel schießt hier zweifellos die Ausgabe von Gassendis Briefwechsel in seinen 1658, drei Jahre nach seinem Tod, erschienenen Opera omnia ab. Die oben erwähnten langen Briefe mit der Wiedergabe der Beobachtungen sind dort sehr kurz, weil die Beobachtungen durch Verweise auf das ebenfalls gedruckte Beobachtungstagebuch ersetzt sind. Es ist klar, daß damit der Wortlaut der Briefe nicht rekonstruiert werden kann, denn natürlich hat Gassendi beim Abschreiben hin und wieder umformuliert oder sich geirrt, zudem hat er viele Beobachtungen übergangen, die in den Zusammenhang nicht paßten, in den er seine Beobachtungen für Schickard darstellte. Hierfür ist allerdings nicht ein späterer Herausgeber, sondern Gassendi selbst verantwortlich, und wir müssen ihm nachsehen, daß er die langen Briefe nicht nochmals für sein eigenes Brieftagebuch abschrieb, das als Grundlage seiner Briefedition bestimmt war.

Nach der zweiten Forderung soll die Ausgabe kritisch sein (siehe Abb. 2). Das heißt: sie verzeichnet im kritischen Apparat Textvarianten bei mehrfach überlieferten Briefen, sie verzeichnet und begründet, sofern geboten, Abweichungen vom überlieferten Text; sie bezeichnet auch Nachträge des Schreibers statt sie, wie es oft geschieht, kommentarlos in den fortlaufenden Text einzuarbeiten, und sie nennt schließlich Korrekturen des Verfassers, soweit sie nicht unerheblich sind.

Weiter sollte die Ausgabe (drittens) übersichtlich sein. Dazu gehört, daß die Briefe in einer chronologischen Reihe geboten werden. Laufende Nummern der Briefe sollen die Übersichtlichkeit fördern; sie werden für Verweise innerhalb der Ausgabe benutzt und können beim Zitieren verwendet werden. Eine Schlagzeile vor jedem Brief mit Nummer, Verfasser, Adressat und Bestimmungsort nach dem Vorbild der Kepler-Ausgabe, eine zweite Zeile mit Ort und Datum einschließlich errechnetem Wochentag und, falls bekannt, dem Eingangsdatum, weiter Angaben über das Verhältnis zu anderen Briefen ("Antwort auf", "Beantwortet durch") und zur Überlieferung sollen die formale Beschreibung der Briefe in standardisierter Form, also knapp und übersichtlich, bereitstellen, lebende Kolumnentitel mit Nummer, Datum, Verfasser und Adressat sollen die Orientierung im Buch erleichtern. Selbstverständlich sind sie per Programm erzeugt.

Mit informativ, dem vierten Punkt, meine ich das, was die Ausgabe zum Verständnis des Textes beiträgt, also Kommentare verschiedener Art: Erklärungen von Sachverhalten, die dem Leser vielleicht nicht geläufig sind, aber vom Herausgeber ermittelt werden konnten (oft in Form von Literaturhinweisen), bibliographische Ermittlung der in den Briefen meist nur andeutungsweise zitierten Literatur, Identifizierung der in den Briefen genannten Personen und der Verfasser der zitierten Literatur, kurz nach Möglichkeit aller Personen, die bis etwa 1800 gelebt haben. Kommentare sind in Apparatform unten auf der Seite gegeben, dabei wird bei der zitierten Literatur nur auf deren Nummer im Literaturverzeichnis verwiesen - der Kürze halber und um Wiederholungen zu vermeiden. Die Lebensdaten und sonstige biographische Angaben zu Personen findet man dagegen im Register; sie werden in einer Nebendatei gehalten und nach dem Sortieren und Zusammenführen der Einträge in das Personenregister (siehe Abb. 3 und Abb. 4) eingefügt.

Unter erklärenden Zutaten können auch die Übersetzungen einzelner griechischer und aller hebräischen, arabischen und syrischen Textstellen sowie ganzer hebräischer Briefe subsumiert werden.

Nicht selten bin ich mit der Erwartung konfrontiert worden, auch die lateinischen Brieftexte in der Ausgabe zu übersetzen. Ich habe das immer abgelehnt, weil die Texte als Grundlage für die Forschung zunächst in der Ursprache vorgelegt werden müssen. Danach kann, wer will, eine Übersetzung in Angriff nehmen. Daß sie für alle Briefe sinnvoll wäre, bezweifle ich; Übersetzungen einiger Dutzend Briefe habe ich selbst schon veröffentlicht. (14)  

3. Typographie und Programme

Die genannten (und einige hier nicht genannte) sachlichen Forderungen ziehen Ansprüche an Typographie und Programm nach sich. Einige Beispiele: Wir wollen aus dem Datum den Wochentag berechnen. Die Briefe und bibliographische Eintragungen müssen bei Sortierung neu numeriert werden, die Numerierung muß an andere Stellen derselben Datei (z.B. bei Verweisen auf Briefnummern) oder in andere Dateien (die Nummern der Bibliographie in die Briefdatei und in die Einleitung) übertragen werden. Wir brauchen Druckseiten mit lebenden Kolumnentiteln, Zeilenzählern, Marginalien und mehreren Apparaten. Wir haben Abbildungen mit ihren Legenden einzubauen. Wir legen Wert auf eine gute Schriftqualität und brauchen außer der lateinischen auch griechische, hebräische, arabische und syrische Schrift. Wir benötigen Sonderzeichen wie die astronomischen für Tierkreiszeichen, Planeten u. dgl., die man als eigene Schrift kaufen kann, und andere wie die cossischen, die man sich machen lassen muß, auch willkürlich vom Briefschreiber gebildete, die man sich aus vorhandenen Zeichen basteln kann. Wir müssen Tabellen setzen und Akkoladen verschiedener Größe einbauen.

Zum Glück entspricht TUSTEP den genannten Bedürfnissen in nahezu vollkommener Weise, wobei Entwicklungen der letzten Jahre wie der Einsatz benutzereigener Schriften und das Einbinden von Graphiken dem Werk in ästhetischer und ökonomischer Hinsicht förderlich waren. Es ist darum nicht mehr als billig, wenn der Dank an TUSTEP aus dem Vorwort hier wiederholt wird:

Ohne Einsatz der EDV wäre ein solches Editionsvorhaben heute kaum möglich. Ich schätze mich glücklich, dafür TUSTEP, das am Zentrum für Datenverarbeitung der Universität Tübingen unter Leitung von Prof. Dr. Wilhelm Ott entwickelte "Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen", einsetzen zu können, das mir in jeder Phase der Bearbeitung von 1986 bis heute die Arbeit unendlich erleichtert hat und wegen seines Leistungsumfangs für Editionen und andere geisteswissenschaftliche Arbeiten nicht nachdrücklich genug empfohlen werden kann. Für ihren Rat in TUSTEP-Angelegenheiten bin ich Wilhelm Ott und Kuno Schälkle zu großem Dank verpflichtet.
 

Abbildungen

Abb. 1: Band 2, S. 78 (PDF-Datei): Gassendi an Schickard. Typische Seite für die Wiedergabe seiner Beobachtungen. (zurück)

Abb. 2: Band 1, S. 140 und S. 141 (PDF-Dateien): Schickard an Kepler mit Beschreibung und Skizze seiner Rechenmaschine. Differenzierte Überlieferung, umfangreicher kritischer Apparat. (zurück)

Abb. 3: Band 2, S. 675 (PDF-Datei): Personenregister mit biographischen Angaben zu Personen bis 1800. (zurück)

Abb. 4: Band 2, S. 676 und S. 677 (PDF-Dateien): Die Einträge unter "Schickard, Wilhelm" sind sachlich untergliedert. (zurück)
 

Anmerkungen

1 ) Wilhelm Schickard: Briefwechsel / hrsg. von Friedrich Seck. - Stuttgart-Bad Cannstatt : Frommann-Holzboog, 2002. - Bd. 1. X, 694 S. - Bd. 2. X, 701 S. (zurück)

2 ) Die Immatrikulation am 23. März 1607 hat eher formalen Charakter, weil die Klosterschüler danach an ihre Schulen - das war für Schickard das nahe Bebenhausen - zurückkehrten, bis im Stift ein Platz für sie frei wurde. Erst danach begann das Studium an der Universität. (zurück)

3 ) Das Exemplar befindet sich heute in der Universitätsbibliohek Basel. Vgl. Owen Gingerich: An annotated census of Copernicus' De Revolutionibus (Nuremberg, 1543 and Basel, 1566). Leiden, Boston, Köln: Brill, 2002, S. 212 f. und Owen Gingerich: Mästlin's, Kepler's, and Schickard's Copies of "De Revolutionibus". In: Zum 400. Geburtstag von Wilhelm Schickard, hrsg. von Friedrich Seck, Sigmaringen: Thorbecke, 1995, S. 167-183, bes. Abb.S. 180. (zurück)

4 ) [Christian] Binder: Wirtembergs Kirchen- und Lehrämter T. 2, Tübingen 1799, S. 723. - Vgl. Wilhelm Schickard / hrsg. von Friedrich Seck, Tübingen : Mohr, 1978, S. 19 f. (zurück)

5 ) Ulrich Neumann: "Olim, da die Rosen Creutzerey noch florirt, Theophilus Schweighart genant" : Schickards Freund und Briefpartner Daniel Mögling. In: Zum 400. Geburtstag von Wilhelm Schickard. Zweites Tübinger Schickard-Symposion, 25. bis 27. Juni 1992 / hrsg. von Friedrich Seck. - (Contubernium ; Bd. 41). - Sigmaringen : Thorbecke 1995, S. 93-115; das Zitat S. 111. (zurück)

6 ) Briefe von Johann Dieterich an Konrad Dieterich, 18.11.1626 und 3.1.1627 (Briefwechsel Bd. 1 Nr. 138 und 145). Ganz nebenbei kommt in einem Brief heraus, daß Mögling - und nicht Opitz, wie mancher lange gemeint hat - die "Arcadia", einen seinerzeit sehr berühmten Schäferroman des Sir Philip Sidney, ins Deutsche übersetzt hat. (zurück)

7 ) Mögling an Schickard, 3.1.1630 (Briefwechsel Bd. 1 Nr. 402). Vgl. Friedrich Seck: Wer hat Sidneys "Arcadia" ins Deutsche übersetzt? In: Wissenschaftsgeschichte zum Anfassen : von Frommann bis Holzboog / hrsg. von Günther Bien, Eckhart Holzboog, Tina Koch. - Stuttgart-Bad Cannstatt : Frommann-Holzboog, 2002. (zurück)

8 ) An Sebastian Tengnagel, 25.7.1631 (Briefwechsel Bd. 1 Nr. 506). (zurück)

9 ) Grotius an Schickard, 11.2.1629. Vgl. Schickard an Wendelin Bülfinger, 7.9.1627, Grotius an Bernegger, 3.1.1629 (Briefwechsel Bd. 1 Nr. 334, 193, 325). (zurück)

10 ) De raris mirisque Anni 1631. Phaenomenis. Es gibt zwei Drucke: Leipzig 1629, Frankfurt 1630. Jetzt in: Johannes Kepler: Gesammelte Werke Bd. 11,1 / bearb. von Volker Bialas. - München : Beck, 1983, S. 475-482. (zurück)

11 ) Pierre Gassendi: Mercurius in Sole visvs et Venus invisa Parisiis, Anno 1631. Pro voto, & admonitione Keppleri / per Petrum Gassendum, cujus heic sunt ea de re Epistolae Duae, cum observatis quibusdam alijs. - Parisiis: Sumptibus Sebastiani Cramoisy, 1632. (zurück)

12 ) Schickard: Pars Responsi Ad Epistolas P. Gassendi Insignis Philosophi Galli De Mercurio Sub Sole Viso, & alijs Novitatibus Uranicis. Tübingen, 1632. (zurück)

13 ) Dazu Briefwechsel Bd. 1 S. 45. (zurück)

14 ) Z.B.: Wilhelm Schickard in Briefen : Ein Tübinger Gelehrtenleben im 30jährigen Krieg. Nürtingen : Schwäbischer Heimatbund, Ortsgruppe Nürtingen, 1987. - 48 S. (Nürtinger Museumshefte ; 1).
Aus alten Briefen: Wilhelm Schickard zum 400. Geburtstag. In: Tübinger Blätter 79 (1992/93) 61-66.
Weiteres siehe: Briefwechsel Bd. 2 S. 474 f.
(zurück)


aus: Protokoll des 86. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 23. November 2002