Aus dem Protokoll des 88. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 12. Juli 2003

 

Harald Völker (Göttingen)

Altfranzösische Urkundensprache in der Grafschaft Luxemburg:
Die Rolle der EDV bei Quellenedition, Sprachanalyse und Registererstellung

1. Zum Forschungsprojekt „Westmitteldeutsche und ostfranzösische Urkunden- und Literatursprachen im 13. und 14. Jahrhundert“ (SFB 235, Trier)

In der Romanistik hat die Beschäftigung mit der sprachlichen Ausprägung überlieferter Gebrauchstexte einen eigenen Forschungszweig hervorgebracht: die Skriptaforschung. Die Bezeichnung scripta im Sinne von "schriftlich überliefertes Geschäftsschriftgut aus einer Zeit, in der eine Schriftnorm noch nicht ihre volle Wirkung entfaltet hat" tritt zum ersten Mal in Louis Remacles berühmt gewordenem Buch Le problème de l'ancien wallon (1948) auf. (1)   Beschäftigt man sich innerhalb der Romanistik mit Urkundensprache, so ist heute die Skriptaforschung die methodologische Referenzdisziplin. Dies gilt auch für das hier vorgestellte Forschungsprojekt zu den altfranzösischen Originalurkunden der Grafschaft Luxemburg im 13. Jahrhundert. Einige inner- wie außerdisziplinäre Besonderheiten führten gleichwohl dazu, dass weitere methodische Elemente in unsere Forschungsarbeit mit einflossen:

2. Transkription und Edition

Für das altluxemburgische Gebiet liegt mit Camille Wampachs Urkunden- und Quellenbuch zur Geschichte der altluxemburgischen Territorien bis zur burgundischen Zeit (10 Bände, 1935-1955) eine umfangreiche Edition zugänglicher Quellen zur luxemburgischen Geschichte vor. So sehr dieses Quellenbuch auch unsere Arbeit im Hinblick auf die möglichst vollständige Berücksichtigung aller vom Luxemburger Grafenhaus bis 1281 ausgestellten oder empfangenen altfranzösischen Originalurkunden erleichterte, so wenig dispensierte es uns von einer Neutranskription und Neuedition der Dokumente. Dabei fiel nicht nur ins Gewicht, dass von den insgesamt 180 von uns als relevant ermittelten Stücken bei Wampach 7 gar nicht und 13 nur als Regest berücksichtigt sind – was immerhin zu einem zusätzlichen Editionsvolumen von 12,5 % führt. Von großer Bedeutung war für uns auch, dass Wampachs Edition für einen geschichtswissenschaftlichen Rezipientenkreis konzipiert ist und somit mehr dem Verständnis des modernen Lesers als dem Variantenreichtum der mittelalterlichen Sprache verpflichtet ist. Demgegenüber haben wir uns, insbesondere im Hinblick auf unseren varietätenlinguistischen Analyseansatz, für eine weitestgehend variantenfreundliche Transkription und Edition der Urkunden entschieden. Eckpunkte der Editionsrichtlinien sind etwa: (3)  

Bei all diesen innerhalb der Romanistik durchaus kontrovers diskutierten Entscheidungen konnten wir uns nicht zuletzt an der in der Germanistik mit Friedrich Wilhelms Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300 begründeten Tradition der Urkundenedition sowie an den innerhalb der Germanistik zu früherem Zeitpunkt nicht minder kontroversen Diskussionen orientieren.

Für die Umsetzung dieser Arbeiten griffen wir auf das an der Universität Trier gut eingeführte und optimal unterstützte Softwarepaket TUSTEP zurück, das uns mit seiner unproblematischen Sonderzeichenverwaltung und seinen detailliert programmierbaren Möglichkeiten des pattern matching eine hilfreiche Stütze war. Hervorgehoben werden soll an dieser Stelle, daß uns das letztgenannte pattern matching insbesondere bei unseren gestaffelten Korrekturdurchgängen und bei der Entzifferung schwer lesbarer Stellen willkommene Prüf- und Suchmöglichkeiten bot. So konnte mit pattern matching etwa überprüft werden, ob sich eine problematische Lesart durch weitere Okkurrenzen innerhalb des Gesamtkorpus oder innerhalb von Teilkorpora (z.B. Schreiberkorpora) stützen lässt.

3. Sprachanalyse

Die sprachliche Analyse der Korpusurkunden stützt sich auf drei methodische Pfeiler, die einerseits aus der Tradition der Skriptaforschung heraus entwickelt wurden, andererseits aber auch vor dem Hintergrund interdisziplinärer Einflüsse ihre Prägung erhielten.
  1. Wie im vorhergehenden Abschnitt bereits angedeutet, ist die sprachliche Variante das Basiselement unserer Analysen. Der methodische Pfeiler Nr. 1 ist somit die Verfügbarkeit unverfälschter und nicht modernisierender Texteditionen. Die Diskussion zu den Zusammenhängen zwischen Editionsart und Sprachanalyse wird in der Romanistik unter dem Stichwort „New Philology“ geführt und ist keineswegs beendet. (7)  
  2. Die einzelnen Urkunden werden nicht auf Grund scheinbar bekannter – aber nicht in allen Fällen verifizierter – diasystematischer Charakteristika vorsortiert, insbesondere nicht in diatopischer Hinsicht. Auch wird nicht die interpretatorische Vorentscheidung getroffen, dass die konkrete Variation diatopisch (geographisch) zu interpretieren sei, wie dies in der Skriptaforschung bislang im allgemeinen der Fall war.
  3. Statt dessen wurden zu den einzelnen Urkunden in den vier varietätenlinguistischen Kategorien diachronisch (auf der Zeitachse), diatopisch (Lokalisierung), diastratisch (sozial) und idiolektal (Scheidung der Schreiberhände) alle verfügbaren historischen Daten gesammelt und im Hinblick auf eine voraussetzungsneutrale Korrelationsanalyse kategorisiert. (8)  

Kriterium für die Auswahl der sprachlichen Elemente war deren zu erwartende Variationsträchtigkeit im Untersuchungskorpus. Die bisher in der Skriptaforschung zu Tage gebrachten Ergebnisse stellten dabei den Ausgangspunkt für die zu treffende Auswahl dar. (9)   Durchgeführt wurden die Korrelationsanalysen mit einem Programm, das auf der Basis des TUSTEP-Bausteins #Kopiere geschrieben wurde. Materialseitig greift dieses Programm auf eine TUSTEP-Segmentdatei zu, in der die Text- und die Metatext-Daten kombiniert und relational verwaltet werden. (10)  

4. Glossar- und Registererstellung

Um das Untersuchungskorpus für die Lektüre, aber auch für weitergehende onomastische und lexikologische Untersuchungen zu erschließen, wurden mehrere Register erstellt: ein Glossar (zur Edition), ein Sachregister (zum einführenden Text, zur Sprachanalyse und zum Glossar), ein Autorenregister (zum gesamten Text), ein Anthroponymregister (zur Edition), ein Toponymregister (zur Edition) und ein Urkundenregister. Sachregister, Autorenregister und Urkundenregister wurden im Zuge der Satzarbeiten automatisch generiert. Glossar, Toponym- und Anthroponymregister wurden halbautomatisch erstellt, d.h. die Grunddaten wurden mit Hilfe der TUSTEP-Registerroutinen aus dem Editionstext extrahiert und anschließend weiterverarbeitet. Dabei fiel naturgemäß beim Toponymregister am wenigsten Weiterverarbeitungsaufwand an, wohingegen das Anthroponymregister nach historischen Personen sortiert und das Glossar mit Bedeutungsangaben, Verweisen und weiteren Angaben 'zu Fuß' angereichert wurde.

5. Satzherstellung und Internetedition

Die typographische Weiterverarbeitung der Daten für die Publikation erfolgte unter TUSTEP. Im Hinblick auf die stets möglichen Konvertierungsverluste beim Wechsel des Datenverarbeitungssystems ist dies einer der großen Pluspunkte des Tübinger Programmpakets. Ein Teil der Daten (insbesondere die Edition) wurde daneben für das Internet aufbereitet. Auch im Falle dieser Publikationsart musste das Format der Grunddaten nicht geändert werden, da TUSTEP als non-WYSIWYG-Programm SGML-kompatibel ist. (11)  

6. Literaturhinweise

Boutier, Marie-Guy: Études sur des chartes luxembourgeoises.- In: Gärtner, Kurt; Holtus, Günter; Rapp, Andrea; Völker, Harald (eds.): Skripta, Schreiblandschaften und Standardisierungstendenzen. Urkundensprachen im Grenzbereich von Germania und Romania im 13. und 14. Jahrhundert. Beiträge zum Kolloquium vom 16. bis 18. September 1998 in Trier.- Trier, Kliomedia 2001, 419-447.

Frei, Henri: La grammaire des fautes. Introduction à la linguistique fonctionnelle. Assimilation et différenciation. Brièveté et invariabilité. Expressivité.- Paris/Genève, Geuthner/Kundig 1929.

Gleßgen, Martin; Lebsanft, Franz (eds.): Alte und neue Philologie.- Tübingen, Niemeyer 1997.

Holtus, Günter; Overbeck, Anja; Völker, Harald: Luxemburgische Skriptastudien. Edition und Untersuchung der altfranzösischen Urkunden Gräfin Ermesindes (1226-1247) und Graf Heinrichs V. (1247-1281) von Luxemburg.- Tübingen, Niemeyer 2003.

Holtus, Günter; Harald Völker: Editionskriterien in der Romanischen Philologie.- In: Zeitschrift für romanische Philologie 115 (1999) 397–409 (= 1999a).

Holtus, Günter; Harald Völker: Das Ineinandergreifen von Diachronie und Synchronie bei der Edition altfranzösischer Urkundentexte.- In: Eggers, Eckhard, et al. (eds.): Florilegium Linguisticum. Festschrift für Wolfgang P. Schmid zum 70. Geburtstag.- Frankfurt a. M. et al., Lang 1999 199–223 (= 1999b).

Overbeck, Anja: Vom Edieren alter Texte im 21. Jahrhundert. Die romanistische Editionsphilologie 10 Jahre nach der 'New Philology'-Diskussion.- In: Editio 17 (2003) im Druck.

Remacle, Louis: Le problème de l'ancien wallon.- Liège, Faculté de Philosophie et Lettres 1948.

Völker, Harald: Skripta und Variation. Untersuchungen zur Negation und zur Substan­tivflexion in altfranzösischen Urkunden der Grafschaft Luxemburg (1237–1281).- Tübingen, Niemeyer 2003.

Völker, Harald: Zwischen Textedition und historischer Varietätenlinguistik: TUSTEP-unterstützte hypertextuelle Strukturen zur Analyse rekontextualisierter Texte.- In: Edieren in der elektronischen Ära. Beiträge zur Berliner ITUG-Jahrestagung 2002, im Druck.

Wampach, Camille: Urkunden- und Quellenbuch zur Geschichte der altluxemburgischen Territorien bis zur burgundischen Zeit.- 10 vol., Luxemburg, Paulus 1935-1955.

Wilhelm, Friedrich, et al.: Corpus der altdeutschen Originalurkunden bis zum Jahr 1300.- Lahr, Schauenburg 1932– .

Anmerkungen

(1) Eine Skizze zum Verlauf der methodologischen Entwicklungen in der Skriptaforschung und um sie herum findet sich in: Völker 2003, 9-79. (zurück)

(2) Die Projektleitung des germanistisch-romanistischen Teilprojekts lag in den Händen von Prof. Dr. Günter Holtus (Romanistik, Trier/Göttingen) und Prof. Dr. Kurt Gärtner (Germanistik, Trier). An den romanistischen Arbeiten wirkte neben dem Autor dieses Beitrags insbesondere Dr. Anja Overbeck (Trier/Göttingen) mit. (zurück)

(3) Edition und die ausführlichen Editionsrichtlinien können in Holtus/Overbeck/Völker 2003, 6-14 und 259-467, konsultiert werden. (zurück)

(4) Cf. etwa die von Boutier 2001 unternommene Detailuntersuchung zur Interpunktion einer Urkunde des Projektkorpus. (zurück)

(5) Cf. etwa Holtus/Völker 1999b zu langem und rundem s. (zurück)

(6) Cf. Holtus/Overbeck/Völker 2003, 473. (zurück)

(7) Zur New Philology cf. Gleßgen/Lebsanft 1997 und Overbeck (im Druck). (zurück)

(8) Zur Herleitung dieser methodischen Eckpfeiler cf. Völker 2003, 88-102. (zurück)

(9) Cf. Holtus/Overbeck/Völker 2003, 101-104. (zurück)

(10) Programm und Datenstruktur werden näher beschrieben in: Völker (im Druck). Die Ergebnisse der Sprachanalysen finden sich in: Holtus/Overbeck/Völker 2003, 104-257. (zurück)

(11) Cf. http://gepc189.uni-trier.de/cgi-bin/iRMnet/RMnetIndex.tcl?hea=qf&for=qafranzu
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aus: Protokoll des 88. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 12. Juli 2003