Aus dem Protokoll des 88. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 12. Juli 2003

 

Alexandra Braun-Rau (Universität München)

"Hyper-Shakespeare" - Interaktivität in elektronischen Editionen am Beispiel von Shakespeares King Lear

Beim Vergleich von elektronischen Editionen und Buchausgaben werden immer wieder die enormen Speichermöglichkeiten des elektronischen Mediums hervorgehoben. Gegenüber einer Buchausgabe bieten die Speicherkapazitäten elektronischer Editionen durchaus Vorteile: So können ohne erheblichen Mehraufwand mehrere Fassungen eines Textes integriert werden, ebenso wie umfangreiche Kontextmaterialien, Kommentare, Bild- und Audiodateien. Die Fokussierung der quantitativen Optionen elektronischer Editionen hat im editorischen Bereich allerdings zu einer Verschiebung geführt: Vor allem im anglo-amerikanischen Raum wird nun verstärkt auf die Dokumentation von Text gesetzt. Dabei werden alle Fassungen und Kontextmaterialien eines Textes oder Werkes im Rahmen von Hypermedia Archiven präsentiert mit dem Ziel, den Nutzer die von ihm bevorzugte Textgrundlage selbst auswählen zu lassen. (1)   Die Erstellung eines kritischen Lesetextes scheint dabei zunehmend aus dem Blickfeld zu rücken. Wird dennoch ein kritischer Lesetext integriert, so wird häufig der Text einer renommierten Studienausgabe übernommen und digitalisiert. Dieses Verfahren findet sich auch bei Ausgaben, die zusätzlich zum gedruckten Buch eine elektronische Version ihres Buchtexts zur Verfügung stellen wollen.

Daß ein kritisch edierter Lesetext auch in elektronischen Editionen notwendig sein kann, wurde mittlerweile mehrfach hervorgehoben. Sind zu einem Text - wie bei Chaucers Wife of Bath - unzählige Handschriften überliefert, so erweist sich - trotz anfänglicher Bedenken der Herausgeber der elektronischen Edition - ein Referenztext als sinnvoll, da er als Grundlage für die Erforschung der unterschiedlichen Fassungen genutzt werden kann. (2)   Auch bei stark mit Druck- oder Schreibfehlern durchsetzten Texten, wie sie beispielsweise bei Shakespeare - und insbesondere bei Shakespeares King Lear - vorliegen, ist ein allgemein verständlicher Lesetext von Nutzen. Kaum hinterfragt wurde allerdings bisher, inwieweit das neue Medium für elektronische Editionen nicht nur Vorteile auf quantitativer Ebene, sondern neue Perspektiven für kritisches Edieren insgesamt bietet.

Sollen nicht nur mit kommentierendem "Beiwerk" geschmückte, digitalisierte Druckausgaben, sondern genuin kritische, innovative elektronische Editionen konzipiert werden, gilt es, das Potential des elektronischen Mediums kritischer als bisher auszuschöpfen. Gerade das Merkmal der Interaktivität ist ein entscheidender Vorteil virtueller Lehr- und Lernmittel. Während der Rezipient eines Buches eine vorwiegend passive Haltung zum Text einnimmt, kann der Nutzer einer interaktiven elektronischen Edition in den Kommunikationsprozeß aktiv einbezogen werden. Wie nun Interaktivität in einer traditionellerweise an Printkonventionen gebundenen elektronischen Edition auf mehreren Ebenen umsetzbar und wie sie technisch herstellbar sein kann, soll im folgenden an Beispielen aus meinem dialogisch-elektronischen Editionsmodell der Fassungen von Shakespeares King Lear aufgezeigt werden. (3)  

Dialogisch-elektronisches Editionsmodell

Shakespeares King Lear gehört zu den Texten, die in jüngerer Zeit einem bedeutenden Wandel in ihrer Rezeption unterzogen wurden. Von Shakespeares King Lear sind zwei Druckausgaben überliefert, die mutmaßlich von Handschriften des Autors gesetzt wurden: Die erste Druckausgabe im Folioformat und die erste Druckausgabe im Quartformat. Aus diesen Drucken wird in der Regel eine kritische Shakespeare-Ausgabe (Critical Edition) erstellt, wobei nach jüngerem Forschungsstand jede Fassung separat zu edieren ist. Die anglo-amerikanische Critical Edition ist ein in Form und Funktion stark normierter Ausgabentyp, der sich in der Regel durch einen geschlossenen, häufig auch als definitive reading text bezeichneten Lesetext mit Zeilenzählung, einen Variantenapparat und einen Kommentar auszeichnet. Je nach Zielgruppe und Ausgabentyp können Variantenapparat und Kommentar ans Ausgabenende gesetzt werden.

Bei der Übertragung dieser normativen Form ins elektronische Medium findet tendenziell eine Kopie des Buchtextformats statt. Neben einfachen Digitalisierungen des Buchtextes, die die lineare Textstruktur nicht aufbrechen, finden sich digitalisierte Buchtexte mit Hyperlinks, die eine assoziative Vorgehensweise bis zu einem gewissen Grad zulassen. Allerdings werden auch hier zumeist Konventionen aus dem Buchdruck, wie harte Zeilenumbrüche und Zeilenzählung ins elektronische Medium übernommen. Das Potential an Interaktivität, das das neue Medium für kritisches Edieren bietet, wird bei derartigen Verfahren nur bedingt ausgeschöpft. Gerade in der elektronischen Edition können aber für den Nutzer neue Zugänge zu einem Text eröffnet werden, die im Buch aufgrund der beschränkten Visualisierungsmöglichkeiten nicht umsetzbar sind. Eine Dimension ist beispielsweise die Frage nach den Handschriften und der Entstehung von Lesetexten.

Interaktiver Lesetext

Idealiter können Lesetexte aus handschriftlichen Quellen erstellt werden. Da von Shakespeare keine Handschriften überliefert sind, können die Textausgaben nur auf Grundlage der beiden Frühdrucke konstituiert werden. Häufig sind die Lear-Frühdrucke aber so stark mit Fehlern durchsetzt, daß die Fassungslesungen nur annähernd vermutet, keinesfalls aber anhand der Überlieferung verifiziert werden können. Das nachfolgend vorgestellte elektronisch-dialogische Editionsmodell geht nun davon aus, daß gerade in wissenschaftlichen Ausgaben editorische Unsicherheiten dem Nutzer angezeigt werden sollen. Dieser Prämisse entsprechend wird in der Edition kein fester oder eindeutiger, sondern ein diskursiv ausgerichteter, interaktiver Lesetext geboten, der auf Grundlage wissenschaftlicher Editionsprinzipien neu ediert wird. Liegen alternative Lösungen bei der Textkonstitution vor, bietet der interaktive Text zwar einen Lösungsvorschlag, bei Anklicken des Vorschlags wird jedoch eine Replace-Funktion mit Auswahlliste aufgerufen, die editorische Alternativen aufführt. Aktiviert der Nutzer eine der Optionen, wird die vorgeschlagene Grundlesung durch die ausgewählte Variante ersetzt.

Abb. 1: Replace-Funktion

Da der Nutzer in der Regel kein Shakespeare-Experte oder Textkritiker ist, kommt dem Editor die Aufgabe zu, die Zusammenhänge und Hintergründe der unterschiedlichen Vorschläge zu verdeutlichen. In meiner Modell-Edition wird deshalb gleichzeitig mit der Replace-Funktion ein Pop up Window geöffnet, das die Funktion des Variantenapparats übernimmt. Von dort gelangt der Nutzer dann zu den textkritischen Erläuterungen, die wiederum Hyperlinks zu weiterführenden Informationen enthalten. Auf Grundlage dieser Informationen kann sich der Nutzer schließlich ein Urteil über die Textentstehung bilden, unterschiedliche Alternativen im Kontext prüfen und die von ihm gewählten Textzustände individuell abspeichern. Der Nutzer ist somit eingeladen, sich aktiv an der Diskussion des Textes zu beteiligen und am Entscheidungsprozeß teilzunehmen.

Dynamische Kontextualisierung

Die Funktion der dynamischen Kontextualisierung ist ein weiteres Beispiel für die stark interaktive Ausrichtung des Editionsmodells. So setzt ein Einblick in die Entstehung eines Textes voraus, daß der Nutzer auch auf die Originalquellen zugreifen kann. In den meisten Editionen - ob auf CD-Rom oder im Internet - werden Faksimile-Images der Originalquellen zwar eingebunden. Der Nutzer kann diese aber nur als statische Bilddateien ansehen, die nicht mit dem Text in Einzelsegmenten verlinkt sind.

Im elektronisch-dialogischen Editionsmodell von King Lear hingegen sind die Bilddateien funktional eingebunden. Grundlage für dieses Verfahren ist das Prinzip der dynamischen Kontextualisierung. Ruft der Nutzer ein Hyperlink im Lesetext auf, kann über das Menü automatisch die entsprechende Stelle im Faksimile angewählt werden. Desweiteren handelt es sich hier nicht um statische Bilddateien, sondern um interaktive Faksimiles, die wiederum stellenbezogene Verknüpfungen zu anderen Text- und Bildebenen aufweisen.

Abb. 2: Dynamische Kontextualisierung - Interaktive Faksimiles

Interaktivität Navigationstruktur

Bisher wurde Interaktivität nur auf die Inhalte der Edition bezogen. Ein weiterer Aspekt ist die Realisierung einer interaktiven Navigationsstruktur, die individuell an die Bedürfnisse des Nutzers adaptiert werden kann.

Flexibilität in der Menüführung wird vor allem dann erreicht, wenn der Nutzer seine Informationen in den einzelnen Fenstern selbst auswählen und zusammenstellen kann. Um dem Nutzer ein höchstmögliches Maß an eigenen Steuerungsmöglichkeiten zukommen zu lassen, wird auf eine starre Informationszuordnung in den einzelnen Fenstern verzichtet. Indem jedem Fenster eine eigene Menüleiste zugeordnet ist, kann der Nutzer selbst über die Verteilung und Zusammenstellung unterschiedlicher Informationsebenen entscheiden.

Voraussetzung für die Umsetzung der flexiblen Navigationsstruktur aus didaktischer Sicht ist die Implementierung von Navigationshilfen wie Floater, Textstellen-Referenzfenster und Suchfunktionen. Auch die Zeilenzählung dient als Navigationshilfe, da sie in einem eigens entwickelten Verfahren wortbezogen gesteuert und bedarfsorientiert aktiviert werden kann.

Technische Realisierung Prototyp

Bei der technischen Realisierung wurden folgende Aspekte berücksichtigt:

Um die unterschiedlichen Bezugsebenen, die sich aus den inhaltlichen Anforderungen ergeben, elektronisch bearbeiten und sinnvoll strukturieren zu können, liegt der Edition eine Datenbankstruktur zugrunde. Bei der Datenaufbereitung wurden folgenden Schritte ausgeführt:

  1. Kollation der Fassungen
  2. Textsegmentierung bis Wortebene
  3. Zuordnung von ID-Strukturen zu den Textsegmenten
  4. Einspeisung in ein relationales Datenbanksystem
  5. Text-, Kommentar- und Materialerstellung über die ID-Struktur der Datenbank

Die Vorteile der Datenbankstruktur liegen zum einen in der modularen Erweiterbarkeit des Systems, der Organisation und Verwaltung des Materials für den Editor sowie der Trennung von Kerndatenbestand und Ausgabeformat. Zum anderen können über die ID-Struktur Textdaten, Kommentare und Materialien direkt aus der Datenbank extrahiert und bei der Kodierung der elektronischen Edition genutzt werden.

Anmerkungen

1 ) Siehe unter anderem The Rossetti Hypermedia Archive: http://jefferson.village.virginia.edu:2020/
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2 ) Geoffrey Chaucer: The Wife of Bath’s Prologue on CD-ROM. Ed. Peter Robinson. Cambridge 1996. (zurück)

3 ) Die textkritischen Grundlagen, Editionsprinzipien und die Gesamtkonzeption des Modells werden in der Studie Alexandra Braun-Rau: "Shakespeares King Lear in seinen Fassungen. Ein dialogisch-elektronisches Editionsmodell" dargestellt, die in Kürze im Niemeyer-Verlag erscheinen wird. Bestandteil der Studie ist ein elektronischer Teil mit Beispieledition. (zurück)


aus: Protokoll des 88. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 12. Juli 2003