Aus dem Protokoll des 89. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 22. November 2003

 

Thomas Kollatz (Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, Duisburg)

EDV und Epigraphik.
Inventarisation und Dokumentation jüdischer Friedhöfe mit TUSTEP

Hebräische Grabstein-Epigraphik

Die Grundlagen zu einer eigenständigen jüdischen Epigraphik legten Vertreter der "Wissenschaft des Judentums" im frühen 19. Jahrhundert. Leopold Zunz anerkannte bereits 1823 in der Zeitschrift für die Wissenschaft des Judenthums 'Leichensteine' als wertvolle "Zeugen der Geschichte, die über Aufenthalt, Lebensalter, Freiheit, Beschäftigung etc. Aufschluss geben". Erste Initiativen zur systematischen Erfassung einzelner Friedhöfe setzten um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein, Dokumentationen zu Toledo, Berlin, Frankfurt und Hamburg werden vorgelegt. Einen Höhepunkt sowohl in Hinsicht auf Methodik und inhaltliche Durchdringung des Inschriftenkorpus wie der typographischen Wiedergabe stellt die zweibändige Edition der Inschriften des Alten Judenfriedhofes in Wien durch Bernhard Wachstein (1912/17) dar.

Auch heute werden deutsch-jüdische, meist hebräischsprachige Grabinschriften in zunehmendem Maße wieder als aufschlussreiche Quelle jüdischer Sozial-, Kultur- und Religionsgeschichte wahrgenommen und unter wechselnden Gesichtspunkten und divergierenden Fragestellungen von Genealogen, Lokalhistorikern, Judaisten, Kultur- und Kunstwissenschaftlern herangezogen.

Die Zeit drängt - neben Vandalismus und Schändung geht die größte Bedrohung der Inschriften heute von steigender Luftverschmutzung aus. Mehr denn je ist die Schaffung einer "Zweitüberlieferung" in Wort und Bild geboten, sollen diese bedeutenden innerjüdischen Quellen nicht für immer verloren gehen.

Typischer Aufbau einer Inschrift

Bevor auf die Aspekte der Datenverarbeitung epigraphischer Quellen eingegangen wird, ist es hilfreich, zunächst - am Beispiel eines Steines, der auf dem Friedhof Hamburg-Altona, Königsstraße liegt und im Jahre 1789 errichtet wurde - auf typische Elemente einer hebräischen Grabinschrift hinzuweisen.

Abb. 1: Inschrift

Umrahmt wird eine Grabinschrift in der Regel von einer Einleitungsformel (im Beispiel Zeile 1) und einer Schlussformel, meist einem Akronym (Zeile 12), zusammengestellt aus den hebräischen Anfangsbuchstaben der Worte aus 1 Sam 25,29: "Seine/ihre Seele sei eingebunden in das Bündel des Lebens". Selbstverständlich sind Namensangaben in unserem Fall mit Vater- und Gattenname: "Pessche, Tochter des Natan und Gattin des Ber Heilbutt" sowie Sterbe-, häufig auch Begräbnisdatum, seltener das Geburtsdatum. Bemerkenswert ist, dass im vorliegenden Beispiel das Sterbejahr in einem Chronogramm angegeben ist. Den weitaus größten Raum einer Inschrift erhält die Eulogie, das Totenlob - oft aufwendig gestaltet. Pessches fünfzeilige Eulogie etwa reimt am Zeilenende auf "-rah" und ist mit einem Akrostichon aus den Buchstaben des Namens der Verstorbenen, Pessche, am Zeilenbeginn geschmückt (Zeilen 1-5). Schließlich sind in den kurzen Text ein Talmudzitat und zwei Bibelzitate eingeflochten. Typisch für Grabinschriften ist, bedingt durch den knappen Raum des Grabsteines, die Verwendung zahlreicher Abkürzungen.

So erfahren wir aus den knappen Zeilen der Eulogie, dass die Verstorbene ganz offensichtlich eine tüchtige Geschäftsfrau war, die nicht nur für ihre Kinder sorgen konnte, sondern darüberhinaus Talmudschüler finanziell unterstützte, sich also durch Wohltätigkeit auszeichnete.

Grabinschriften vermitteln eine ebenso komplexe wie vielschichtige Innenansicht jüdischen Alltagslebens, der Gemeinderealität und, über längere Zeiträume betrachtet, den Wandel im Umgang mit Sterben und Tod. Bewahren sie doch weit mehr als Namen und Todestage. Häufig skizziert der begrenzte Raum des Gedenksteins mit knappen Strichen die Biographie der Verstorbenen. Oft sind deren Stellung und Funktion innerhalb der jüdischen Gemeinde, Mitgliedschaften in wohltätigen Vereinen angedeutet. Die Inschriften verstehen es, auf eine eher weltliche oder religiöse Orientierung, Vorliebe fürs Kaufmännische oder Talmudische der Verstorbenen hinzuweisen. Rabbinisch Gelehrte werden mit ihren Ämtern als "Vorsitzender des Gerichtshofs" oder "Rabbinatsassessor" und nicht selten mit ihren halachisch-religionsgesetzlichen Werken erinnert. Genealogisch aufschlussreich ist die obligatorische Angabe des Vaternamens, bei verheirateten Frauen auch des Gattennamens. Dies lässt u.U. auch Rückschlüsse auf Wanderungsbewegungen und Heiratsstrategien zu. Zudem bezeugen die Inschriften den lebendigen, kreativen Gebrauch des Hebräischen; immer wieder finden sich stilistisch wie poetisch anspruchsvolle Eulogien, kunstvoll aus Bibel-, Talmud- und Midraschzitaten gewoben, mit Reim, Metrik, Akrostichen oder Chronogrammen versehen.

Epigraphische Datenbank

Der Wunsch nach einer Datenbank, die Erfassung und Korrektur von Inschriften, vor allem aber eine friedhofsübergreifende Recherche ermöglicht, existierte schon lange, allein es haperte an einer überzeugenden Umsetzung. Erst im Rahmen eines epigraphischen Großprojekts - Inventarisierung und Dokumentation des aschkenasischen Friedhofs in Hamburg-Altona, durchgeführt am Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte, Duisburg - wurde die Entwicklung und der Einsatz einer leistungsfähigen Datenbank unabdingbar. Koordination, Vereinheitlichung und Korrektur der Eingaben von mehreren Mitarbeitern, die dazu in verschiedenen Orten und Ländern leben, ließ sich mit Mitteln herkömmlicher Textverarbeitungssysteme nicht mehr bewältigen. Der Versuch, eine epigraphische Datenbank unter access einzurichten, scheiterte an den begrenzten Möglichkeiten im Umgang mit zweisprachigen, deutsch-hebräischen Eingabefeldern und fehlender bzw. unbefriedigender Datenausgabe in Druck und WWW.

Derartige Probleme bereitet das "Tübinger System von Textverarbeitungs-Programmen" (TUSTEP) nicht. TUSTEP zwingt von Anfang an, aus dem umfangreichen Programmpaket und vielfältigen Werkzeugen ein maßgeschneidertes Programm nach den konkreten Projektanforderungen zu entwickeln. Dabei stehen nicht nur umfangreiche Möglichkeiten der Datenverwaltung, sondern auch diverse Optionen zur Datenausgabe bereit, beispielsweise die Herstellung einer professionellen Druckfassung oder die Publikation im WWW.

Doch beim erfolgreichen EDV-Einsatz sind stets auch die potentiellen Nutzer, vor allen Dingen aber deren Beschränkungen zu berücksichtigen. Eingabemasken sind nun einmal nicht jedermanns Sache. Zudem beschränken sich Computerkenntnisse auch im universitären Bereich in der Regel auf den oberflächlichen Umgang mit gängigen Textverarbeitungssystemen und schließen gewiss nicht das ebenso leistungsfähige wie komplexe Programmpaket TUSTEP ein.

Word-Formatvorlage "epi.dot"

Also wurde auf ein duales System gesetzt; die Mitarbeitenden wurden dort abgeholt, wo sie stehen - bei Microsoft-WORD. WORD wird zur Ersterfassung, TUSTEP zur Verwaltung, Korrektur, Vereinheitlichung, Recherche und Ausgabe der erfassten Daten eingesetzt. Die dem Projekt verbundenen Mitarbeiter erfassen, übersetzen und kommentieren die Grabsteine einzeln mit Hilfe einer eigens entwickelten und dokumentierten WORD-Formatvorlage ("epi.dot"). Dieser Formatvorlage wurden "Leitlinien zur Grabsteinaufnahme mit der WORD-Vorlage epi.dot" beigegeben; dort sind editorische Konventionen, Namenstranskriptionen, Auflösung hebräischer Abkürzungen u.ä. verbindlich festgelegt.

Formatvorlagen werden im allgemeinen in der Microsoft Office-Umgebung zur typographischen Gestaltung von Texten eingesetzt. Sie eignen sich aber ebensogut zur inhaltlichen Auszeichnung eines Textes. Hier setzt die Formatvorlage "epi.dot" an. Den Kategorien, unter denen die Inschriften erfasst werden sollen (Transkription, Übersetzung, Datierung, Schrift, Symbole usw.), entspricht in der Formatvorlage jeweils ein Format. Zahlreiche vordefinierte Autotexte vereinfachen Routineeingaben und gewährleisten eine möglichst kohärente Erfassung der Inschriften. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil dieses Umweges über Microsoft-WORD ist, dass die Bearbeiter in der vertrauten WORD-Umgebung arbeiten können, ohne zuvor in den Umgang mit komplexen Datenbanksystemen eingearbeitet werden zu müssen.

Sind die Inschriften in WORD erfasst, werden sie im HTML-Format gespeichert, per email weitergeleitet und erst dann in die eigentliche epigraphische, vollständig auf TUSTEP basierende Datenbank "epi" importiert.

TUSTEP-Datenbank "epi"

Die TUSTEP-Datenbank "epi" führt beim Programmstart in ein Kommandomakro, aus dem heraus - durch Mausklick oder die Returntaste - u.a. ein vorhandenes Inschriftenkorpus zur Bearbeitung ausgewählt, eine neue Datenbank eingerichtet oder aber ein Exemplar der Leitlinien zu "epi.dot" ausgedruckt werden kann.

Modi der Datenbank (Stand: Januar 2004)

Die Datenbank wird über den TUSTEP-Editor bzw. Kommandomakros angesprochen. Im Editor stehen derzeit sechs Modi zur Verfügung: Erweiterung, Bearbeitung, Anzeige, Ausgabe, Hilfe und Verwaltung.

1. Modus Erweiterung

Der Erweiterungsmodus ermöglicht, neue Inschriften in eine Datenbank aufzunehmen. Zwei Möglichkeiten werden angeboten: Der Import einer mit "epi.dot" erfassten HTML-Datei - wie oben beschrieben - und die Neueingabe einer Inschrift im TUSTEP-Editor. Die WORD-Dateien können in den TUSTEP-Editor importiert werden, vor der endgültigen Aufnahme in die Datenbank im Editor durch die Projektkoordinatoren gegebenenfalls verändert und korrigiert werden. An dieser Stelle kann auch die genealogische Auszeichnung der Datensätze - über eingängige Editormakros - geschehen. Innerhalb der Datenbank ist jeder Datensatz (jede Inschrift) durch die bei der Erfassung vergebene Kennnummer eindeutig zu identifizieren.

Abb. 2: Epigraphische Datenbank im TUSTEP-Editor

Effizienter ist die Direkteingabe einer Inschrift in den TUSTEP-Editor, ohne den Umweg über WORD. Denn selbstverständlich können die Kategorien der WORD-Vorlage "epi.dot" auch im TUSTEP-Editor zur Verfügung gestellt werden. Bei der Transkription der Inschrift kann der TUSTEP-eigene Viewer zugeschaltet werden, um die unter TUSTEP etwas eigenwillige und gewöhnungsbedürftige Eingabe und Umschrift des Hebräischen kontrollieren zu können. Ist die Inschrift zufriedenstellend transkribiert, besteht die Möglichkeit, eine automatisierte Rohübersetzung zu generieren, deren Ergebnis zeilenweise mit der hebräischen Vorlage verglichen werden kann. Bei dieser Rohübersetzung werden nicht nur die Namen, zahlreichen Abkürzungen und Zitate, die so kennzeichnend sind für hebräische Grabsteininschriften, fehlerfrei und vor allem einheitlich transkribiert, sondern über ein laufend erweitertes Wörterbuch darüberhinaus alle aufgenommenen Wörter, idiomatischen Ausdrücke, Zitate usw. übertragen. Da Transkriptionsfehler nicht übersetzt werden, zwingt dies zur Kontrolle und gegebenenfalls erneutem Abgleich mit der Vorlage; Flüchtigkeitsfehler werden durch dieses Verfahren auf ein Minimum reduziert. Sind ein Zitat, ein Name, ein Ausdruck, eine Abkürzung einmal erkannt, eine adäquate Übersetzung gefunden und ins Wörterbuch aufgenommen, dann werden sie auch bei allen künftigen Inschriften entsprechend übersetzt.

Abb. 3: Rohübersetzung

2. Modus Bearbeitung

Im Bearbeitemodus werden sämtliche Kategorien, die bei der Inventarisierung berücksichtigt werden sollen, bereitgestellt. Dies ermöglicht nachträgliche Korrekturen und Ergänzungen.

3. Modus Anzeige

Im Zeigemodus sind verschiedene Anzeigen wählbar:

4. Modus Ausgabe

Im Ausgabemodus können Listen in PostScript-Qualität ausgegeben werden:

5. Hilfefunktion

Hilfedateien beschreiben auf verschiedenen Programmebenen Funktionsumfang und Eingabesyntax.

6. Datenbank-übergreifendes Datenmanagement im Modus Verwaltung

Der Verwaltungsmodus ermöglicht Datenbank-übergreifendes Datenmanagement: Hier ist es im Prinzip jedem Benutzer möglich, eine neue Datenbank zu eröffnen oder erfasste Inschriften internet-tauglich aufzubereiten, zwischen den derzeit fünf Inschriftenkorpora zu wechseln oder das Programm zu verlassen.

Ausblick

Mittelfristig soll die Möglichkeit zur Online-(Volltext-)Recherche in den epigraphischen Datenbanken realisiert werden. Längerfristig sollte es möglich werden, Akrostichen, Reim und Metrik computerunterstützt erkennen zu helfen, Fragmente zusammenzuführen und aus den vorhandenen genealogischen Daten eines Friedhofes Stammbäume zu generieren.

Weitere Informationen finden Sie im WWW unter:
http://www.steinheim-institut.de/projekte/epigraphie/hamburg/intro.xml


aus: Protokoll des 89. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 22. November 2003