Protokoll des 20. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 28. Juni 1980

 

Allgemeine Informationen

Zum Rechnerwechsel im ZDV
Abbau der CD 3300 Anfang Juli 1980. Lieferung der UNIVAC 1100/80 Ende Juli; ab Anfang September Testbetrieb; ab Ende September voller Betrieb. Der Typenraddrucker ist mit dem Abbau der CD 3300 bis auf weiteres außer Betrieb. Das Satzprogramm wurde auf den TR 440 umgestellt.

Hinweise auf neu erschienene Literatur:


 

Klaus und Renate Birkenhauer

Einsatz eines Microcomputers für computerunterstützte Übersetzung und Dokumentation (mit Demonstration am Wang 5-3)

1. Der organisatorische Rahmen

In Straelen am Niederrhein entsteht seit 1978 das "Europäische Übersetzerkollegium" mit Räumen für Übersetzer, einer großen Fachbibliothek und einer EDV-Anlage zur Dokumentation. Hier können Übersetzer während ihrer Arbeit mit Kollegen aus anderen Ländern wohnen, sich gegenseitig weiterhelfen oder ein größeres literarisches oder wissenschaftliches Werk im Team übersetzen. Ein Textverarbeitungssystem, das mit der Zeit weiter ausgebaut wird, soll sie bei der Übersetzungsarbeit unterstützen, aber auch die "Nebenprodukte" dieser Arbeit sammeln und anderen Übersetzern sowie Lexikographen zugänglich machen; dazu gehören z.B.: Für diese Aufgaben lassen sich schon die Möglichkeiten der kleineren elektronischen Textverarbeitungsgeräte nutzen, wie sie heute vielfach auf dem Büromarkt (allerdings speziell auf dessen Bedürfnisse ausgerichtet) entwickelt werden. Dort bieten die Hersteller neben der äußerst bequemen Datenerfassung auch Programmpakete an, z.B. für Buchführung oder Serienbriefe. Für die Bedürfnisse einer so kleinen Zielgruppe, wie es die Übersetzer sind, gibt es allerdings noch keine Software. Deshalb schien es sinnvoll, zunächst einen Katalog ihrer übersetzerischen Arbeitsprobleme zusammenzustellen und sich dann unter jenen Maschinen umzusehen, die zusätzliche Möglichkeiten für die Anwenderprogrammierung besitzen.

2. Typische Arbeitsprobleme des Übersetzers

  1. Die reine Schreibarbeit
    Ein freiberuflicher Buchübersetzer muß, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können, pro Tag im Jahr mindestens fünf Seiten druckfertig übersetzen. Verzögert sich diese Arbeit durch terminologische Schwierigkeiten oder durch Recherchen, wird der Zeitdruck noch stärker. Einen großen Teil dieser Zeit nimmt allein das Tippen der diversen Textfassungen von der Rohübersetzung bis zur endgültigen Reinschrift in Anspruch.

  2. Terminologische Schwierigkeiten
    Anders als bei Fachübersetzern, die für Übersetzungsdienste arbeiten, sind die Texte der "Buchübersetzer" weniger spezialisiert und breiter gefächert. Die üblichen technischen Wörterbücher helfen oft nicht weiter, weil sie nur das eigentliche "harte" Fachwort enthalten, aber nicht die vielen Wendungen, die auch noch zu seinem Umkreis gehören. Und vor allem werden die Übersetzer von ihren Lexikographen dort im Stich gelassen, wo es in einem aktuellen Buch um den allerneuesten Sprachgebrauch geht.
    Sie erarbeiten sich also oft gerade solche Gebiete ihrer Muttersprache, die nicht oder nur zu einem geringen Teil im Blickfeld des Lexikographen liegen. Aber in den meisten Fällen stehen sie so unter Zeitdruck, daß sie diese wichtigen Nebenergebnisse einer Übersetzung nicht gezielt bewahren, geschweige denn anderen Kollegen zugänglich machen können.

  3. Die eigene Sprachkompetenz
    Die Kenntnis der Fremdsprache ist Voraussetzung. Aber was sehr oft nicht bedacht wird, ist die überdurchschnittliche Beherrschung der Muttersprache: Hier sollte der Übersetzer über möglichst viele Register verfügen und sich in allen Sprachschichten bewegen können, von den etablierten bis zu denen der Randgruppen. Oft muß er in seiner eigenen Sprache Äquivalente nicht nur für Zusammenhänge aus dem fremden Kulturbereich finden, sondern auch für grammatische Strukturen, über die seine Muttersprache nicht verfügt. Auch diese Arbeitserfahrungen gehen normalerweise unter.

  4. Stilistische Richtigkeit und Konkordanz der stilistischen Maßnahmen
    Manchmal gelingt es erst nach mehreren Umstellungen innerhalb des Satzes, den Rhythmus der Vorstellungen und die Aufmerksamkeitsführung des Originalsatzes endgültig nachzubilden. Fragen der Sprachebene, der Auffälligkeit oder Geläufigkeit eines Ausdrucks müssen im Kontext und manchmal gegen die Wörterbuch-Richtigkeit entschieden werden. Oft merkt der Übersetzer erst während der Arbeit, daß ein Ausdruck Signalcharakter annimmt und daß er ihn von Anfang an hätte anders übersetzen müssen. Dann beginnt die Mühe des Suchens und Blätterns.
    Wenn also in individuellen Übersetzungslösungen tatsächlich etwas entstanden ist, das man in ein gutes, umfassendes Wörterbuch aufnehmen könnte, dann nicht wegen seiner inhaltlichen Kongruenz, sondern weil es auch stilistisch, auch in Übereinstimmung mit anderen Textfaktoren und dem Rhythmus der Vorstellungen äquivalent ist - und das zeigt nur die Entstehungsgeschichte einer Übersetzungslösung, die es in vielen Fällen zu dokumentieren lohnt. Sie belegt nicht nur die individuelle Arbeitstechnik des Übersetzers. Seine diversen Annäherungsversuche machen den Stilwillen des Autors oft erst richtig bewußt, dessen gewissenhaftester und professionellster Leser der literarische Übersetzer ist.

3. Die Arbeit am Bildschirm

  1. Textbearbeitung
    Ein zur Textverarbeitung eingesetzter Microcomputer erlaubt zunächst einmal eine wesentlich schnellere Eingabe und Bearbeitung des Textes. Am Bildschirm sind Korrekturvorgänge wie Übertippen, Wegstreichen, Einfügen oder Umstellen unproblematisch. Die Maschine faßt den Text als einen einzigen string auf, der nur physikalisch begrenzt ist. Sie kann daher nach jedem Einfügen oder Tilgen den nachfolgenden Text sofort wieder aufschließen und neu zu Zeilen ordnen, so daß auf dem Bildschirm jedesmal eine makellose Seite erscheint. Darüber hinaus kann man den Text beliebig umformatieren und über ein interaktives Silbentrennungsprogramm zum Blocksatz ausschließen. Den endgültigen Ausdruck des auf Disketten gespeicherten Textes besorgt der Typenraddrucker. (Da solche Microcomputer auch einen Anschluß für Datenfernübertragung besitzen, kann der elektronisch gespeicherte Text über Umkodierungsprogramme sogar in einen Satzrechner eingegeben werden, der ihn zu kompletten Buchseiten umbricht.)

  2. Selbst erarbeitete Terminologie
    Am Bildschirm können Nebenergebnisse der Arbeit schon gleich beim Schreiben mit einem Sonderzeichen versehen und später per Programm als Register erfaßt oder in ein Glossar übertragen und dort gespeichert werden. Sie sind jederzeit wieder für die eigene Arbeit und für andere Kollegen verfügbar.

  3. Arbeitsnotizen
    Die Arbeit am Bildschirm erlaubt, unbegrenzte Notizen mitzuführen. Alle Informationen auf dem Bildschirm, die nicht im Druck erscheinen, aber dennoch aufbewahrt werden sollen, werden von zwei "Notizzeichen" eingeklammert. Der Typenraddrucker übergeht den Inhalt der Klammer. Auf diese Weise können z.B. Übersetzungsvarianten aufbewahrt werden. Ein Programm überträgt sie mit den Bemerkungen des Übersetzers in eine eigene Datei und numeriert sie. Diese Referenznummer erscheint dann auch an der entsprechenden Stelle im Text.

  4. Konkordanz- und Stilprobleme
    Eine schnelle Suchroutine zeigt dem Übersetzer die bisherigen Vorkommen eines bestimmten Ausdrucks mit ihrem Kontext. Er kann bestimmen, diesen Ausdruck nachträglich gegen einen anderen auszutauschen. Da nach jeder Änderung der Text wieder neu geordnet erscheint, ist es ferner möglich, die Auswirkungen verschiedener Satzumstellungen im Kontext zu verfolgen.

4. Die Möglichkeit der Anwenderprogrammierung

Das Textverarbeitungsgerät gestattet dem Anwender, alle Funktionen, die es selber ausführen kann und die durch Tastendruck abgerufen werden, selbst zu eigenen Algorithmen zu verketten. Zu den wichtigsten Funktionen des Microcomputers gehören: schnelles Suchen, Einfügen, Austauschen, Löschen; Kopieren und Umstellen innerhalb eines Textes, aber auch von einer Datei zur anderen; Mischen von zwei Dateien auf dem Drucker, Einrichten von Dialogzeilen und Fehlerkommentaren für die Bedienerführung durch längere Programme. So können die oben aufgezählten typischen, immer wiederkehrenden Arbeitsabläufe am Bildschirm fest programmiert und den Übersetzern bereitgestellt werden, die sie nur über einen einfachen Aufruf zu starten brauchen.
 

Diskussion

Der Microcomputer wird von den Kollegen zunächst häufig als komfortablere Schreibmaschine benutzt. Die Eingabe von Texten in den Microcomputer ist schneller als das Schreiben an der Schreibmaschine. Die eigentlichen Vorteile liegen in der Suchfunktion (Durchsuchen des bereits gespeicherten Übersetzungstextes) und in der über Typenraddrucker jederzeit erstellbaren Reinschrift.

Wünschbar wäre, daß jeweils auch die Quelle, das zu übersetzende Buch, in maschinenlesbarer Form vorliegt. Das Übersetzerkollegium ist deshalb auf der Suche nach einem geeigneten Omnifont-Leser.

Von Vorteil wäre außerdem die Anschlußmöglichkeit an einen zentralen Großrechner zur Beschleunigung langsamer Microcomputer-Funktionen durch Auslagerung auf den Großrechner.

 
(Die Kurzfassung des Referates wurde von den Referenten zur Verfügung gestellt.)


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Übersicht über die bisherigen Kolloquien
tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 11. Juni 2002