Protokoll des 23. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 4. Juli 1981

 

Allgemeine Informationen

Literaturhinweise:
 

Adolf M. Ritter (Wissenschaftlich-Theologisches Seminar Heidelberg)

Stemmatisierungsversuche zum Corpus Dionysiacum

Im Auftrag der Patristischen Kommission der bundesdeutschen Akademien der Wissenschaften wird das Corpus Dionysiacum (CD, aus dem ersten Drittel des 6. nachchristlichen Jh.) von der Göttinger Arbeitsstelle ediert. Der Referent ist als Mitarbeiter dieser Arbeitsstelle mit der Edierung der "Briefe" und der "Mystischen Theologie" des CD befaßt. Die Überlieferung des CD ist im Unterschied zu derjenigen klassisch-antiker Autoren ungewöhnlich reichhaltig (ca. 140 bisher bekannte Hss) und überdies bereits auf der ältesten uns erreichbaren Überlieferungsstufe kontaminiert worden. Infolgedessen erweist sich die Einordnung so vieler Hss, bei der außerdem Textzeugen einer indirekten Überlieferung berücksichtigt werden müssen, in ein Stemma mit den Mitteln herkömmlicher Textkritik als äußerst schwierig, wenn nicht als unmöglich. Um dennoch einen Weg zu finden, um mit größtmöglicher Bestimmtheit die Beziehungen zwischen den einzelnen Hss und Hss-Gruppen ermitteln zu können, lag die Inanspruchnahme eines neuartigen Hilfsmittels, eines quantifizierenden Verfahrens mit Hilfe der Elektronischen Datenverarbeitung (EDV) aus mehreren Gründen nahe. So ergab sich u.a. die Chance, das neuartige Verfahren mit den Ergebnissen der anderen, am gleichen Unternehmen beteiligten Editoren zu vergleichen.

Die maschinelle Auswertung basierte auf den Ergebnissen der manuellen Kollation (fast) sämtlicher Hss, die das dionysianische Briefcorpus überliefern (die Hss stammen aus dem 9. bis 14. Jh.), mit dem Text der Migne-Ausgabe (Patrologia Graeca, Vol. 3). Die Kollationsergebnisse wurden, durch einen zusätzlich erstellten vier- bis fünfstelligen Zahlenschlüssel mit den besonderen Merkmalen der Varianten ergänzt, auf Lochkarten übertragen.

Die Programme zur Auflistung und Auswertung des Datenmaterials wurden von Wilhelm Ott entwickelt, wobei seine Programme für das Münsteraner Novum-Testamentum-Graece-Projekt die Grundlage bildeten. Neu erstellt wurden - in Anlehnung an ein von P. Canivet und P. Malvaux (Byzantion XXXIV, 1964, 384-413) entwickeltes Verfahren - Programme, deren Ergebnisse sich für die Erkennung der Hss-Gruppen zusammen mit der für jede Hs errechneten prozentualen Häufigkeit der Konvergenz mit jeder der übrigen Hss als hilfreich erwiesen. In einem abgestuften Verfahren ließ sich nach unterschiedlichen Kriterien ("Distanzfunktionen") aufgrund der oben erwähnten Zahlenschlüssel jeweils die Häufigkeit von Konvergenz oder Distanz zwischen je zwei Hss errechnen (unter Ausklammerung der Singulärlesarten).

Die Auswertung aller maschinellen Arbeitsgänge bestätigte die schon vorher naheliegende Skepsis gegenüber jeder Stemma-Erstellung zum CD. Obwohl alle Möglichkeiten - in einem frühen Stadium versuchsweise sogar unter Berücksichtigung von Abweichungen in der Satzzeichen-, Spiritus- und Akzentgebung sowie in der Jota sub- und adscriptum-Schreibung - ausgeschöpft wurden, um auf statistisch gesicherter Basis einer eventuellen klaren Spaltung der handschriftlichen Überlieferung oder auch unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnissen (mit dem Ziel der Eliminierung der codices descripti) auf die Spur zu kommen, war das Ergebnis negativ. Nur die nahe Verwandtschaft kleiner Hss-Gruppen ließ sich als annähernd gesichert erweisen.

Eine ausführlichere Darstellung der Untersuchung und ihrer Ergebnisse hat der Referent vorgelegt in:

Adolf M. Ritter. Stemmatisierungsversuche zum Corpus Dionysiacum Areopagiticum im Lichte des EDV-Verfahrens. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philolog.-Histor. Klasse, 1980, Nr. 6.

Bei dem hier dargestellten Experiment hat sich nach Meinung des Referenten der Computer als Hilfsmittel, nicht als Ersatz, der Textkritik, trotz aller Mühsal, die mit seiner Verwendung, insbesondere mit der Datenaufnahme, verbunden ist, ein weiteres Mal glänzend bewährt.
 

Diskussion

Die klassischen Mittel der Lachmann'schen Methode sind bei diesem Gebrauchstext mit stark kontaminierter Überlieferung nicht anwendbar. Der Text des Autors als Archetypus läßt sich nicht gewinnen. Sinn der Stemmatisierungsversuche kann also nur sein, für die bei der recensio und in den textkritischen Anmerkungen zu berücksichtigenden Hss eine sinnvolle Auswahl zu treffen. Es bleibt aber die Frage, ob die Erstellung eines Stemmas in einem Fall wie dem vorliegenden überhaupt noch sinnvoll ist.

Der Schwerpunkt des EDV-Einsatzes lag bei der Auswertung der Kollationsergebnisse. Das quantifizierende Verfahren mit dem Computer hilft, je größer und damit unüberschaubarer die Zahl der Varianten ist, desto mehr die naheliegende Überbewertung oder Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen zu verhindern.

Auf einen weiteren möglichen Vorteil der EDV-Anwendung, nämlich auf die Weiterführung der Edition mit EDV bis zum Druck mit Lichtsatzprogrammen, mußte beim CD leider verzichtet werden.
 

Volker Wendland (Sonderforschungsbereich 8: Spätmittelalter und Reformation)

Stemmatisierungsversuche zur Überlieferung des Sentenzenkommentars des Gregor von Rimini

Zum routinemäßigen Lehrbetrieb in der Theologie des späten Mittelalters gehörte die Kommentierung der Sentenzen des Petrus Lombardus (ca. 1100-1160), einer in vier Bücher eingeteilten systematischen Kompilation des theologischen Wissens jener Zeit. Der seit 1972 am Sonderforschungsbereich 8 der Universität Tübingen edierte Sentenzenkommentar Gregors von Rimini (ca. 1300-1358; er las 1340-1344 in Paris) zu den beiden ersten Büchern des Lombarden wird in sieben Bänden (drei Bände je Buch und ein Registerband), gestützt auf elektronische Datenverarbeitung, zum Druck vorbereitet. Daher lag es nahe, sich bei der Stemmatisierung der komplizierten Handschriftenverhältnisse auch dieses technischen Hilfsmittels zu bedienen. Unser EDV-gestützter Stemmatisierungsversuch betrifft das erste Sentenzenbuch Gregors, das in 26 Hss des 14. und 15. Jh., davon 18 vollständigen, 7 fragmentarischen und einer abbreviierten (d.h. episodische Argumentationen weglassenden), überliefert ist; die Frühdrucke (1482ff.) werden hier nicht berücksichtigt, weil sie schon auf Hss-Kollationen verschiedener Überlieferungszweige basieren.

Mangels gesicherter Kriterien (z.B. Datierung und geographische Verbreitung, Kolumnenkonkordanz, d.h. Übereinstimmung des Kolumnenwechsels bei verschiedenen Hss) konnte die Filiation (Verwandtschaft und Abhängigkeit) der Hss nur durch Vergleich der Textänderungen (Lesarten, Varianten) ermittelt werden. Weil aus ökonomischen Gründen eine Kollation aller Hss nicht in Frage kam, mußte als Editionsgrundlage eine Auswahl von drei zuverlässigen Hss getroffen werden. Diese sollten unterschiedliche Überlieferungszweige repräsentieren. Da in problematischen Fällen alle Codices konsultiert werden, benötigte man auch äußere Kriterien für die Entscheidung über die richtige Lesung; dafür ist die Kenntnis des stemmatischen Niveaus einer Hs wichtig.

Das Variantenmaterial für diese - letztlich vorläufige - Stemmatisierung wurde

  1. durch Kollation aller Hss bei zwei ausgewählten Textstücken (etwa zwei Blatt Umfang) je vom Anfang und Ende des Buches gewonnen.
  2. Es wurden weiterhin 77 über das erste Drittel des Buches verstreute Varianten ausgewählt, denen inhaltliches Gewicht zukommmt und die sich nicht allein durch Ambivalenzen der mittellateinischen Kurzschrift erklären.
Beide Variantenlisten sind getrennt bearbeitet worden.

Bei der Prüfung dieses Materials konnte zunächst der Fall eines codex descriptus ausgeschlossen werden, weil jede Hs singuläre Fehler - insbesondere Auslassungen - enthielt, bei intaktem Text der anderen Hss.

Der Versuch einer Stemma-Erstellung mit Hilfe von Bindefehlern versagte bei der Mehrzahl der Gregor-Hss, da unterschiedliche Variantenstellen zu unterschiedlichen Gruppenbildungen führen (zudem ist die Identifizierung von Fehlern bei einem frühen Bearbeitungsstand problematisch). Daraus ist zu schließen, daß keine geradlinigen Überlieferungen vorliegen; die Hss sind 'kontaminiert'.

Um nun eine rechnerische Hilfe für eine stemmatische Ordnung der Hss nach ihren mehrheitlichen Relationen zu gewinnen, wurde in folgenden Schritten vorgegangen:

  1. Die Anzahl der Fälle, in denen Hss gleiche Lesarten haben, wurde aufgelistet und in Prozentwerte - bezogen auf die Gesamtzahl der von je zwei Hss erfaßten Varianten - umgerechnet, da nicht alle Hss (z.B. Fragmente, Wechsel der Vorlage) am gleichen Variantenumfang verglichen werden konnten. Auf dieser Basis wird am Computer eine Tabelle der 'prozentualen Konvergenz' erstellt, aus der ersichtlich ist, in welchem Maß je zwei Hss prozentual übereinstimmen. Für die von uns untersuchten Hss erhalten wir so 180 Daten.

  2. Aus dieser Tabelle wurde eine 'Sortierung' erarbeitet, indem jeder Hs die Rangliste aller übrigen Hss gemäß ihrer prozentualen Konvergenz zugeordnet wurde, z.B.:
    B : M2 = 94%; B : U = 78%; B : C = 74%; B : Y = 73%; . . .; B : G = 22%; B : T = 22%.
    Die größte Übereinstimmung gab es zwischen B und M2 mit 94%, die geringste zwischen T und U mit 14%.

  3. Die Summe der Prozentwerte, d.h. die Übereinstimmung einer Hs mit allen anderen, ist unterschiedlich groß, je nach ihrer Übereinstimmung mit der 'Mehrheitsmeinung'. Dieses Verhältnis veranschaulicht das arithmetische Mittel der prozentualen Konvergenz einer Hs. In unserem Beispiel erreichte die Hs C den niedrigsten Durchschnitt mit 38%, die Hs d den höchsten mit 67%.

  4. Die 'Clusteranalyse' bildet eine fortschreitend größere Zahl von Hss-Gruppen mit der jeweils höchsten prozentualen Konvergenz ihrer Elemente, z.B.:
    B C M2 R U Y / D G H K L M O Q S T V W Z d
    D G H M T V Z / K L O Q S W d / B C M2 R U Y
    . . .
    M2 Y / B C U / S W / R / D G T Z / K L O Q d / H M V
    Hier sollten sich weitere Berechnungen anschließen, z.B. über die prozentuale Konvergenz der Gruppen als ganzer untereinander, um einen Maßstab für ihre Einheitlichkeit zu gewinnen.

Das endgültige Stemma wurde mit konventionellen Mitteln gewonnen. Aufschlußreich war nun ein Vergleich der EDV-Auswertung

  1. auf Basis der gesamten Varianten eines Textabschnitts
  2. auf Basis selektierter Varianten.
Es zeigte sich, daß die letzteren zu deutlich markanteren Unterschieden wie Gemeinsamkeit der Hss führten und daß ihre Auswertung den Ergebnissen des konventionellen Stemmas weit mehr entsprach. Die Auswertung der gesamten Varianten eines Textabschnitts ergab in jeder Hinsicht ein diffuseres Bild; in der Clusteranalyse trat hierbei z.B. die gut gesicherte Gruppe DGTZ nicht hervor.

Erste schematische Stemmatisierungsversuche, vor allem nach dem Kriterium der prozentualen Konvergenz, erbrachten dem konventionell erstellten Stemma nahekommende Ergebnisse. Für den Zweck der Vorauswahl von Hauptzeugen liegt der Nutzen besonders der Clusteranalyse darin, daß sie die Berücksichtigung der verschiedenen Überlieferungszweige erleichtert. Hier ist allerdings zu erwägen, ob die Gruppen wirklich schon eigenständige Überlieferungszweige repräsentieren; Voraussetzung dazu ist eine deutliche prozentuale Divergenz der Gruppen.
 

Diskussion

Gegen die Ansicht des Referenten, das arithmetische Mittel der prozentualen Konvergenz einer Hs mit allen übrigen könne als Indiz für die Nähe zum Originaltext (Archetypus) gelten, d.h. ein niedriges arithmetisches Mittel der prozentualen Konvergenz sei z.B. auch immer Merkmal einer niedrigen stemmatischen Stellung, wurde eingewandt, daß dies nur ein Maß für die Nähe einer Hs zum Mehrheitstext sein kann und daß folglich eine dem Mehrheitszentrum fern stehende Hs mit einem niedrigen arithmetischen Mittel der prozentualen Konvergenz durchaus dem Originaltext näher stehen könne als z.B. die Hss, die diesen Mehrheitstext überliefern. Die Ergebnisse der statistisch ermittelten Nähe und Ferne zum Mehrheitszentrum könne also nicht unmittelbar auf den wachsenden Qualitätsabfall des Stemmabaumes übertragen werden.

 
(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den Referenten zur Verfügung gestellt.)


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Übersicht über die bisherigen Kolloquien
tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 28. Juni 2002