Die maschinelle Auswertung basierte auf den Ergebnissen der manuellen Kollation (fast) sämtlicher Hss, die das dionysianische Briefcorpus überliefern (die Hss stammen aus dem 9. bis 14. Jh.), mit dem Text der Migne-Ausgabe (Patrologia Graeca, Vol. 3). Die Kollationsergebnisse wurden, durch einen zusätzlich erstellten vier- bis fünfstelligen Zahlenschlüssel mit den besonderen Merkmalen der Varianten ergänzt, auf Lochkarten übertragen.
Die Programme zur Auflistung und Auswertung des Datenmaterials wurden von Wilhelm Ott entwickelt, wobei seine Programme für das Münsteraner Novum-Testamentum-Graece-Projekt die Grundlage bildeten. Neu erstellt wurden - in Anlehnung an ein von P. Canivet und P. Malvaux (Byzantion XXXIV, 1964, 384-413) entwickeltes Verfahren - Programme, deren Ergebnisse sich für die Erkennung der Hss-Gruppen zusammen mit der für jede Hs errechneten prozentualen Häufigkeit der Konvergenz mit jeder der übrigen Hss als hilfreich erwiesen. In einem abgestuften Verfahren ließ sich nach unterschiedlichen Kriterien ("Distanzfunktionen") aufgrund der oben erwähnten Zahlenschlüssel jeweils die Häufigkeit von Konvergenz oder Distanz zwischen je zwei Hss errechnen (unter Ausklammerung der Singulärlesarten).
Die Auswertung aller maschinellen Arbeitsgänge bestätigte die schon vorher naheliegende Skepsis gegenüber jeder Stemma-Erstellung zum CD. Obwohl alle Möglichkeiten - in einem frühen Stadium versuchsweise sogar unter Berücksichtigung von Abweichungen in der Satzzeichen-, Spiritus- und Akzentgebung sowie in der Jota sub- und adscriptum-Schreibung - ausgeschöpft wurden, um auf statistisch gesicherter Basis einer eventuellen klaren Spaltung der handschriftlichen Überlieferung oder auch unmittelbaren Abhängigkeitsverhältnissen (mit dem Ziel der Eliminierung der codices descripti) auf die Spur zu kommen, war das Ergebnis negativ. Nur die nahe Verwandtschaft kleiner Hss-Gruppen ließ sich als annähernd gesichert erweisen.
Eine ausführlichere Darstellung der Untersuchung und ihrer Ergebnisse hat der Referent vorgelegt in:
Adolf M. Ritter. Stemmatisierungsversuche zum Corpus Dionysiacum Areopagiticum im Lichte des EDV-Verfahrens. In: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, I. Philolog.-Histor. Klasse, 1980, Nr. 6.
Bei dem hier dargestellten Experiment hat sich nach Meinung
des Referenten der Computer als Hilfsmittel, nicht als
Ersatz, der Textkritik, trotz aller Mühsal, die mit seiner
Verwendung, insbesondere mit der Datenaufnahme, verbunden
ist, ein weiteres Mal glänzend bewährt.
Der Schwerpunkt des EDV-Einsatzes lag bei der Auswertung der Kollationsergebnisse. Das quantifizierende Verfahren mit dem Computer hilft, je größer und damit unüberschaubarer die Zahl der Varianten ist, desto mehr die naheliegende Überbewertung oder Verallgemeinerung von Einzelbeobachtungen zu verhindern.
Auf einen weiteren möglichen Vorteil der EDV-Anwendung,
nämlich auf die Weiterführung der Edition mit EDV bis
zum Druck mit Lichtsatzprogrammen, mußte beim CD leider
verzichtet werden.
Mangels gesicherter Kriterien (z.B. Datierung und
geographische Verbreitung, Kolumnenkonkordanz, d.h.
Übereinstimmung des Kolumnenwechsels bei verschiedenen
Hss) konnte die Filiation (Verwandtschaft und Abhängigkeit)
der Hss nur durch Vergleich der Textänderungen
(Lesarten, Varianten) ermittelt werden. Weil aus
ökonomischen Gründen eine Kollation aller Hss nicht in
Frage kam, mußte als Editionsgrundlage eine Auswahl von
drei zuverlässigen Hss getroffen werden. Diese sollten
unterschiedliche Überlieferungszweige repräsentieren.
Da in problematischen Fällen alle Codices konsultiert
werden, benötigte man auch äußere Kriterien
für die Entscheidung über die richtige Lesung;
dafür ist die Kenntnis des stemmatischen Niveaus einer Hs
wichtig.
Das Variantenmaterial für diese - letztlich
vorläufige - Stemmatisierung wurde
Bei der Prüfung dieses Materials konnte zunächst
der Fall eines codex descriptus ausgeschlossen werden,
weil jede Hs singuläre Fehler - insbesondere Auslassungen
- enthielt, bei intaktem Text der anderen Hss.
Der Versuch einer Stemma-Erstellung mit Hilfe von
Bindefehlern versagte bei der Mehrzahl der Gregor-Hss, da
unterschiedliche Variantenstellen zu unterschiedlichen
Gruppenbildungen führen (zudem ist die Identifizierung von
Fehlern bei einem frühen Bearbeitungsstand problematisch).
Daraus ist zu schließen, daß keine geradlinigen
Überlieferungen vorliegen; die Hss sind 'kontaminiert'.
Um nun eine rechnerische Hilfe für eine stemmatische
Ordnung der Hss nach ihren mehrheitlichen Relationen zu
gewinnen, wurde in folgenden Schritten vorgegangen:
Das endgültige Stemma wurde mit konventionellen Mitteln
gewonnen. Aufschlußreich war nun ein Vergleich der
EDV-Auswertung
Erste schematische Stemmatisierungsversuche, vor allem nach
dem Kriterium der prozentualen Konvergenz, erbrachten dem
konventionell erstellten Stemma nahekommende Ergebnisse.
Für den Zweck der Vorauswahl von Hauptzeugen liegt der
Nutzen besonders der Clusteranalyse darin, daß sie die
Berücksichtigung der verschiedenen Überlieferungszweige
erleichtert. Hier ist allerdings zu erwägen, ob die
Gruppen wirklich schon eigenständige Überlieferungszweige repräsentieren; Voraussetzung dazu ist eine
deutliche prozentuale Divergenz der Gruppen.
Volker Wendland (Sonderforschungsbereich 8:
Spätmittelalter und Reformation)
Stemmatisierungsversuche zur Überlieferung des
Sentenzenkommentars des Gregor von Rimini
Zum routinemäßigen Lehrbetrieb in der Theologie des späten
Mittelalters gehörte die Kommentierung der Sentenzen des
Petrus Lombardus (ca. 1100-1160), einer in vier Bücher
eingeteilten systematischen Kompilation des theologischen
Wissens jener Zeit. Der seit 1972 am Sonderforschungsbereich 8
der Universität Tübingen edierte
Sentenzenkommentar Gregors von Rimini (ca. 1300-1358;
er las 1340-1344 in Paris) zu den beiden ersten Büchern des
Lombarden wird in sieben Bänden (drei Bände je Buch
und ein Registerband), gestützt auf elektronische
Datenverarbeitung, zum Druck vorbereitet. Daher lag es
nahe, sich bei der Stemmatisierung der komplizierten
Handschriftenverhältnisse auch dieses technischen
Hilfsmittels zu bedienen. Unser EDV-gestützter
Stemmatisierungsversuch betrifft das erste Sentenzenbuch
Gregors, das in 26 Hss des 14. und 15. Jh., davon 18
vollständigen, 7 fragmentarischen und einer abbreviierten
(d.h. episodische Argumentationen weglassenden),
überliefert ist; die Frühdrucke (1482ff.) werden hier
nicht berücksichtigt, weil sie schon auf Hss-Kollationen
verschiedener Überlieferungszweige basieren.
Beide Variantenlisten sind getrennt bearbeitet worden.
Die größte Übereinstimmung gab es zwischen B und M2 mit 94%, die geringste zwischen T und U mit 14%.
B : M2 = 94%;
B : U = 78%;
B : C = 74%;
B : Y = 73%;
. . .;
B : G = 22%;
B : T = 22%.
Hier sollten sich weitere Berechnungen anschließen,
z.B. über die prozentuale Konvergenz der Gruppen als ganzer
untereinander, um einen Maßstab für ihre Einheitlichkeit zu gewinnen.
B C M2 R U Y / D G H K L M O Q S T V W Z d D G H M T V Z / K L O Q S W d / B C M2 R U Y . . . M2 Y / B C U / S W / R / D G T Z / K L O Q d / H M V
Es zeigte sich, daß die letzteren zu deutlich markanteren
Unterschieden wie Gemeinsamkeit der Hss führten und daß ihre
Auswertung den Ergebnissen des konventionellen Stemmas
weit mehr entsprach. Die Auswertung der gesamten Varianten
eines Textabschnitts ergab in jeder Hinsicht ein diffuseres
Bild; in der Clusteranalyse trat hierbei z.B. die gut
gesicherte Gruppe DGTZ nicht hervor.
Diskussion
Gegen die Ansicht des Referenten, das arithmetische Mittel
der prozentualen Konvergenz einer Hs mit allen übrigen könne
als Indiz für die Nähe zum Originaltext (Archetypus)
gelten, d.h. ein niedriges arithmetisches Mittel der
prozentualen Konvergenz sei z.B. auch immer Merkmal einer
niedrigen stemmatischen Stellung, wurde eingewandt, daß dies
nur ein Maß für die Nähe einer Hs zum Mehrheitstext sein
kann und daß folglich eine dem Mehrheitszentrum fern
stehende Hs mit einem niedrigen arithmetischen Mittel der
prozentualen Konvergenz durchaus dem Originaltext näher
stehen könne als z.B. die Hss, die diesen Mehrheitstext
überliefern. Die Ergebnisse der statistisch ermittelten
Nähe und Ferne zum Mehrheitszentrum könne also nicht
unmittelbar auf den wachsenden Qualitätsabfall des
Stemmabaumes übertragen werden.
(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den Referenten zur Verfügung gestellt.)
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