Protokoll des 40. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 27. Juni 1987

 

Allgemeine Information

TUSTEP auf der MicroVAX II

Eine Vorversion von TUSTEP ist unter dem Betriebssystem VMS auf der MicroVAX II entwickelt worden und steht dort für Testzwecke zur Verfügung. Die allgemeine Freigabe ist für die zweite Jahreshälfte 1987 vorgesehen. Unter VMS weist vor allem der Editor einige zusätzliche Leistungen auf, die besonders das Eintragen und Korrigieren erleichtern.
 

Peter L. Schmidt, Joachim Fugmann (FG Literaturwissenschaft, Universität Konstanz)

Eine Rezensionen-Bibliographie zur lateinischen Literaturgeschichte der Antike

Die Bibliographie, den Zeitraum von 1855-1954 umfassend, steht im Zusammenhang mit einer Neubearbeitung der Geschichte der römischen Literatur (jetzt: Handbuch der lateinischen Literatur der Antike) im Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft, die von einer international zusammengesetzten Gruppe von Wissenschaftlern vorbereitet wird. Die Anlage der Neubearbeitung, die den Bereich der lateinischen Literatur vom 3. Jh. v. bis zum 8. Jh. n. Chr. umfassen soll - den Gesamtbereich nach der Abfolge der literarhistorischen Epochen, den einzelnen Band strikt nach Gattungen und den Einzelbeitrag wiederum relativ streng gegliedert - ließ eine Systematisierung auch der wichtigeren älteren Sekundärliteratur nach den neuen Gesichtspunkten als sinnvoll erscheinen. Andererseits sollten die vorhandenen bibliographischen Hilfsmittel, sofern nach diesen Kriterien (etwa zu den einzelnen Autoren) vorhanden, nicht einfach dupliziert werden. Wir waren deshalb der Meinung, daß das Instrument der EDV genutzt werden sollte, um den Mitarbeitern ein Gerüst grundlegender, über die Rezensionen selektierter bibliographischer Angaben in systematischer Anordnung zugänglich zu machen.

Wie Zeitschriftenaufsatz, Akademieabhandlung, Dissertation und Monographie einerseits, Bibliographie und Forschungsbericht andererseits hat sich auch die wissenschaftliche Rezension mit der Entwicklung der Philologie im 19. Jh. zu einer üblichen Publikationsform der wissenschaftlichen Diskussion entwickelt. Dieses reiche Material, das den zeitgenössischen Forschungsdiskurs je ganz unmittelbar spiegelt, ist bibliographisch bisher völlig unzureichend erschlossen. Zwar werden seit einigen Jahrzehnten die wichtigsten Rezensionen in den laufenden Bibliographien berücksichtigt. Zuvor ist ihre Aufnahme jedoch nicht gleichmäßig vollständig, von den Lücken der beiden Kriegsphasen ganz zu schweigen; die älteren zusammenfassenden Bibliographien des 19. Jh. verzichten gänzlich auf Rezensionen. So haben z.B. Stichproben ergeben, daß ein einigermaßen abgerundeter Überblick auch nur über die wichtigsten Besprechungen zu einem Titel, deren Aufnahme sich bis zu 5 Jahren hinziehen kann, ungewöhnlich viel Zeit kostet.

Die Entscheidung für eine systematisch gegliederte Rezensionenbibliographie wird somit mehreren Zielen zugleich gerecht:

  1. Den Mitarbeitern werden die rezensierten Titel, im wesentlichen Editionen und Monographien, zu den von ihnen bearbeiteten Abschnitten zugänglich gemacht.
  2. Die Quantität der Rezensionen ermöglicht gegebenenfalls eine erste Einschätzung der Wirksamkeit eines Werkes; die Rezension selbst erleichtert die Entscheidung, diesen Titel dann auch aufzunehmen oder ist sogar bisweilen als selbständiger Forschungsbeitrag zu berücksichtigen.
  3. Sofern im Rahmen der Literaturgeschichte erforderlich, werden damit auch wissenschaftsgeschichtliche und rezeptionsgeschichtliche Fragestellungen auf eine breitere Basis gestellt.
Für den einzelnen Mitarbeiter wird die (mit den Rezensionen gegebene) systematische Zusammenstellung der Titel den Hauptnutzen darstellen, deren er sich in Kombination mit anderen Hilfsmitteln (etwa Forschungsberichten) bedienen wird. Indes steht auch über diesen unmittelbaren Nutzen hinaus ein umfangreiches Material für die berührten Gesichtspunkte zur Verfügung. Damit sind aber gleichfalls die unumgänglichen Ein- und Ausgrenzungen angesprochen:
  1. Die Bibliographie erfaßt den Zeitraum von 1855-1954, d.h. gerade die vernachlässigten älteren Phasen und die beiden Kriegs- bzw. Nachkriegsepochen. Dabei versucht das Anfangsdatum, die Konzentration der philologischen Wissenschaftsorganisation einigermaßen zutreffend zu erfassen.
  2. Mit dem konkreten Ziel ist eine weitere Einschränkung gegeben: Berücksichtigt werden nur Titel zu lateinischen Texten bzw. zu übergreifenden Themen, in denen lateinische Texte angemessen figurieren.
  3. Nur Titel zu Texten, nicht zu den in ihnen dargestellten Sachverhalten allgemein werden aufgenommen, d.h. sehr wohl zur Quellenlage bestimmter historischer Ereignisse/Prozesse, nicht aber generell zu diesen Ereignissen/Prozessen selbst.
  4. Ganz pragmatisch begründet ist die Begrenzung des Umfangs, der mindestens eine halbe Seite betragen sollte, um nicht die zahllosen Kurzrezensionen von nur wenigen Zeilen unberechtigt zu verewigen.
Der Bibliographie liegt ein Gesamtraster zugrunde, das sich aus drei Blöcken zusammensetzt:

Die lateinischen Autoren sind in vier Klassen eingeteilt, die sich durch den Grad ihrer systematischen Ausdifferenzierung unterscheiden, je nach Größe des jeweiligen Autors und der damit zu erwartenden Zahl bibliographischer Einträge. Grundlage bildet stets die Untergliederung in "Textausgaben" einerseits, "Forschungsliteratur" andererseits. Diese beiden Bereiche sind je nach Autorenklasse wiederum weiter ausdifferenziert.

Das eigentliche Aufnahmeverfahren geht von der Selektion der einzelnen Titel aufgrund der Rezensionen aus. Auf eine mehrfache Erfassung des gesamten Titels kann verzichtet werden; bei der Erstaufnahme (der sog. Hauptaufnahme) wird der einzelne Titel in einen absolut eindeutigen Code umgesetzt, der bei allen weiteren Aufnahmen dieses Titels (den sog. Nebenaufnahmen) als Kennung verwendet werden kann, so daß nur noch die neue Fundstelle (Zeitschrift) und der jeweilige Rezensent anzugeben und abzuspeichern sind.

Der Code selbst besteht aus zwei Zeilen (*k, *m), von denen die erste (*k) mit der Systemstelle des Gesamtrasters identisch ist, sofern es sich nicht um autorenspezifische Titel handelt. Alle antiken Autoren und Werke, sofern letzteren eine eigene systematische Stelle zugewiesen ist, erhalten dagegen einen drei- bzw. zweistelligen alphanumerischen Mnemo-Code; auf die Angabe der Systemstelle der betreffenden Gattung kann verzichtet werden, da diese automatisch vom Programm ergänzt wird. Die 2. Zeile (*m) enthält einen Matchcode, der in kodierter Form den Einzeltitel repräsentiert (je 5 Buchstaben für den Namen des modernen Autors bzw. Herausgebers und den Werktitel, 2 Stellen für die beiden letzten Ziffern des Erscheinungsjahrs, ggf. 2 weitere Stellen für die Bandangabe). Mit Hilfe dieses Systems läßt sich jeder Titel in einer eindeutigen Kodierung beschreiben und am Ende der betreffenden Systemstelle des Gesamtrasters zuordnen. Zugleich hat dieses Prinzip den Vorteil, daß es hinsichtlich der Ausdifferenzierung durch seine Offenheit flexibel ist.

Die Aufnahme erfolgt in drei Schritten:

Ist ein Bearbeitungszeitraum, für den als Einheit eine Dekade gewählt wurde, abgeschlossen, werden die gespeicherten Daten in das Gesamtraster einsortiert; innerhalb der einzelnen Systemstellen erfolgt die Sortierung der Titel in alphabetischer Reihenfolge. Um eine Liste der bearbeiteten Zeitschriften und aufgenommenen lateinischen Autoren ergänzt, wird die jeweilige Dekade für den Druck aufbereitet und den Mitarbeitern auf Microfiche zugestellt. Auf der Erstellung weiterer Register ist in diesem Arbeitsstadium - schon aus rein zeitlichen Gründen - bewußt verzichtet bzw. bis zum Ende der bibliographischen Datenerfassung zurückgestellt, wenn alle Dekaden zu einer Gesamtbibliographie zusammengefaßt werden sollen.
 

Jean-Louis Lebrave (Institut des Textes et Manuscrits Modernes, CRNS Paris)

Edition von Entwurfsmanuskripten. Darstellung und Analyse der Textgenese

Das Forschungsinteresse des "Institut des Textes et Manuscrits Modernes" beim C.N.R.S. in Paris an Textgenese, wie sie sich in Schreibprozessen konkretisiert, hat zur Entwicklung der hier vorgestellten Programme geführt und deren bisherigen Einsatz bestimmt. Innerhalb des französischen literarkritischen Ansatzes einer critique génétique wird eine oppositionelle Scheidung von texte und avant-texte postuliert. Autorhandschriften stellen dabei die Materialisierung von avant-texte dar. Ihre Untersuchungsbasis sind, graphisch-materiell und zweidimensional, Manuskriptaufzeichnungen in ihrer Verwobenheit von Schreib- und Lese- (= 'Korrektur'-)Vorgängen. Die Erfassung von Schreibprozessen erfordert die analytische Entflechung solcher Verwobenheit; es gilt, aus der scheinbaren Einschichtigkeit und Simultaneität des Schreibergebnisses die Raum/Zeit-Dimension (darüber/darunter, vor/nach) des Schreibablaufs zu interpretieren und die Interpretationserkenntnis zum Nachvollzug bzw. zur Überprüfung und ggf. Revision darzustellen.

Der gewählte Analyseansatz ist linguistischen Ursprungs. Das Konzept der linguistischen Substitution führt, unter Einbezug der sich in Handschriften interpretierbar manifestierenden Dimension der Zeit, zur Definition der genetischen Substitution. Sie ist insgesamt durch linken und rechten Kontext für den Schreibprozeß als Schreib- oder Lese-Substitution erkennbar. (Textbezogen spricht die germanistische Editionswissenschaft bisher schon von Varianten als 'Sofort'-, 'Bald'- oder 'Spät'-Korrekturen.)

Bei der Analyse von Schreibprozessen bietet sich die Datenverarbeitung zunächst grundsätzlich als Hilfsmittel an, allein schon angesichts der Quantität von zu untersuchenden Handschriftenmaterialien. Konsequenz und Konsistenz der Bearbeitung bei umfangreichen Korpora - z.B. längeren Prosatexten - werden durch die Datenverarbeitung wesentlich erleichtert. Zudem ermöglicht eine Darstellung mithilfe der Datenverarbeitung das Überprüfen der Gültigkeit der Schritte und Entscheidungen der Analyse. Darüber hinaus bietet allein die Datenverarbeitung eine Möglichkeit zur übergreifend zusammenfassenden Analyse: Aus dem zunächst zur Darstellung lokaler Substitutionen erfaßten und ausgezeichneten Textkorpus läßt sich z.B. ein Substitutionswörterbuch generieren, das generelle Tendenzen und Gesetzmäßigkeiten der Substitutionen, und also des Schreibprozesses als ganzem, aufdeckt.

Bei der Demonstration der Programme anhand eines vorbereiteten kürzeren Prosatexts wurde zunächst die codierende Auszeichnung zur Markierung der aus der Handschrift analysierten Substitutionsvorgänge erläutert. Die analytische Interpretation des Handschriftenbefundes vollzieht sich ganz im Vorfeld der eigentlichen Programmabläufe. Der erste Schritt der Datenverarbeitung macht sodann die Substitutionsabfolgen durch stufenweise Einrückungen vom und Rückführungen zum linken Rand sichtbar. Die je lokalen Substitutionen lassen sich durch Zusatzzeichen zur Anzeige ihrer [allfälligen] Synchronie ergänzen. Folgeprogramme erbringen eine zweifache Leistung: Zum einen werden Substitutionen syntagmatisch als in Kontexte eingebettete Lesartenabfolgen zusammengestellt; zum anderen werden im Substitutionswörterbuch aus dem jeweiligen Gesamttext den alphabetisch zusammengestellten Substituenda paradigmatisch die für sie aktualisierten Substitute gegenübergestellt.

Die syntagmatischen wie die paradigmatischen Zusammenfassungen bieten beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung dieser Programme zur Handschriftenerfassung und -analyse in erster Linie eine Grundlage zur Erschließung und Interpretation von Schreibprozessen. Es liegt jedoch auf der Hand, daß - beginnend mit der aus der codierten Erfassung resultierenden Stufendarstellung eines Textes - eine Entwicklung der Programme zur Unterstützung der wissenschaftlichen Handschriftenedition sich anbietet.

Die Programme sind in einer Großrechner- und einer PC-Version (Apple Macintosh) einsatzfähig.
 

Diskussion

Die Diskussion drehte sich vor allem um Form und Funktion eines Substitutionswörterbuches. Unter der Voraussetzung, daß sich eine chronologische Abstufung der Korrekturen und eine Zuordnung der Korrekturen zu den einzelnen Stufen durchführen läßt, kann das Wörterbuch ein nützliches Hilfsmittel zum Erkennen der Absichten eines Autors sein, die ihn bei einzelnen Korrekturdurchgängen oder beim sukzessiven Hinzufügen von Textteilen im Schreibprozeß geleitet haben. Das Wörterbuch ist als Arbeitsmittel und nicht für die Publikation gedacht.

 
(Die Kurzfassungen der Referate wurden von den Referenten zur Verfügung gestellt.)


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Übersicht über die bisherigen Kolloquien
tustep@zdv.uni-tuebingen.de - Stand: 7. Juli 2003