Aus dem Protokoll des 49. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 7. Juli 1990

 

Heinrich Delfosse (Trier)

Erschließung von philosophischen Texten:
Erfahrungen mit computergestützter Index-Arbeit

 

Summary:
Indexing of Philosophical Texts: Experiences in Computer-based Data Retrieval

A notable activity at the Institute of Philosophy in the University of Trier is the computer-based data retrieval for philosophical texts of the German Enlightenment, as well as of several twentieth century texts. The data processing has supported traditional hermeneutic and philological research specifically in question of:
  1. The history of terms and concepts;
  2. The dating of texts;
  3. Source history.

 

Im Mittelpunkt der Arbeit der Abteilung "Datenverarbeitung und Editionen" des Faches Philosophie an der Universität Trier steht die Erschließung philosophischer Texte insbesondere der deutschen Aufklärung (Christian Wolff, Johann Heinrich Lambert, Georg Friedrich Meier, Immanuel Kant, Markus Herz) (1.); daneben werden aber auch Werke modernerer Philosophen (u.a. Martin Heidegger (2.) und Edmund Husserl) mit Hilfe der EDV erschlossen.

Die Erschließungsziele divergieren, entsprechend kommt die EDV in verschiedenen Formen zum Einsatz; hier können nur prototypisch zentrale Fragestellungen philosophie-historischen Arbeitens genannt und der jeweilige EDV-unterstützte Lösungsansatz skizziert werden. Zu den Ergebnissen verweise ich auf die beigegebene Literaturauswahl.

In drei zentralen Disziplinen der philosophie-historischen Forschung hat sich der Einsatz von EDV bewährt:

  1. im Bereich wort- und begriffsgeschichtlicher Untersuchungen;
  2. im Bereich von Fragen der Textdatierung;
  3. im Bereich von Fragen der Quellengeschichte.
Auf die Möglichkeiten der EDV für die Konjekturalkritik und die Klärung von Echtheitsfragen sei hier nur am Rande verwiesen.

Zu 1: Hier kommen texterschließende Listen zum Einsatz, die eine chronologische Würdigung eines philosophischen Begriffs bei einem Autor ermöglichen und damit - im Vergleich und in der Zusammenschau mit den Ergebnissen entsprechender Untersuchungen zu weiteren Autoren - zu einem vertieften Verständnis führen können (3.).

Zu 2: Die Datierung von Texten, deren Abfassungszeit nicht zureichend gesichert ist, wird mit Hilfe der Wortstatistik möglich. Zwar sind die Methoden der Wortstatistik älter als die Datenverarbeitung und unabhängig von ihr entwickelt worden; die computer-unterstützt erstellten Indices jedoch machen sprachliche Eigentümlichkeiten allererst sichtbar. Indices zu Textcorpora sowie synoptisch und chronologisch angelegte Verteilungslisten des begrifflichen Inventars bilden den Ausgangspunkt für immer neue Sprachbeobachtungen. Die EDV schafft erstmals die Möglichkeit, eine Vielzahl von sprachlichen Eigenheiten eines bestimmten Textcorpus gleichzeitig zu erfassen und damit die Sprachentwicklung in ihrer ganzen Breite nachzuzeichnen.

Zu 3: Auch für die vielschichtigen Fragen der Quellenanalyse werden die genannten Hilfsmittel der EDV verwendet, ergänzt allerdings um ein im engeren Sinne hermeneutisch orientiertes und die Gesamtuntersuchung leitendes Verfahren, das die ideen- und problemgeschichtlichen Aspekte mitberücksichtigt.

Hier zeigt es sich, daß die traditionellen Gelehrtentugenden einerseits und die Arbeit mit dem Rechner andererseits nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Beide sind vielmehr untrennbar aufeinander angewiesen. Denn: Ohne die philologisch-historisch geschulte Vertiefung in die Texte bleibt die Anwendung der EDV im Bereich der Geisteswissenschaften letztendlich unbefriedigend.

Anmerkungen

1. Näheres siehe: Norbert Hinske: Arbeitschwerpunkte und Forschungsvorhaben der Abteilung für elektronische Datenverarbeitung des Faches Philosophie der Universität Trier.- In: RES, III o Colloquio Internazionale, Roma 1980 (= Lessico Intellettuale Europeo, Bd. XXVI), S. 525 ff. zurück

2. Vgl. Rainer A. Bast, Heinrich P. Delfosse: Handbuch zum Textstudium von Martin Heideggers "Sein und Zeit", Bd. 1: Stellenindices. Philologisch-kritischer Apparat, Stuttgart-Bad Cannstatt 1980. zurück

3. Norbert Hinske: Kants neue Terminologie und ihre alten Quellen. Möglichkeiten und Grenzen der elektronischen Datenverarbeitung im Felde der Begriffsgeschichte.- In: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses Mainz, 6.-10. April 1974, Teil 1 [Kant- Studien 65 (1974) Sonderheft], S. 68*-85*. zurück

Literaturauswahl

Delfosse, Heinrich P.:
Indexformen und ihre Funktion. Hinweise zur computerunterstützten Texterschließung und Editionsphilologie.- In: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 3 (1980) S. 29-44.

Delfosse, Heinrich P.; Krämer, Berthold; Reinardt, Elfriede:
Wolff-Index. Stellenindex und Konkordanz zu Christian Wolffs "Deutsche Logik".- In: Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung [= FMDA], Abt. III, Bd. 19, hrsg. von Norbert Hinske. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. XLI, 630 S.

Hinske, Robert:
Lambert-Index. Erstellt in Zusammenarbeit mit Heinrich P. Delfosse.

Hinske, Robert:
Kant-Index. Bd. 1: Stellenindex und Konkordanz zu Georg Friedrich Meier "Auszug aus der Vernunftlehre". Erstellt in Zusammenarbeit mit Heinrich P. Delfosse und Heinz Schay. Stuttgart-Bad Cannstatt 1986 [FMDA Abt. III, Bd. 5]. XLII, 584 S.
(Weitere Bände sind in Vorbereitung.)

Hinske, Robert:
Kant-Index. Bd. 14: Personenindex zum Logikcorpus. Erstellt in Zusammenarbeit mit Heinrich P. Delfosse und Elfriede Reinardt. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991 [FDMA Abt. III, Bd. 18]

Hinske, Robert:
Die Datierung der Reflexion 3716 und die generellen Datierungsprobleme des Kantischen Nachlasses. Erwiderung auf Josef Scmucker.- In: Kant-Studien 68 (1977) S. 321-340.

Hinske, Robert:
Kant per Computer. Einsatzmöglichkeiten der elektronischen Satenverarbeitung im Bereich der Geisteswissenschaften.- In: Neue Deutsche Hefte 1 (1987) S. 106-113.

Hinske, Robert:
Reimarus zwischen Wolff und Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der "Vernunftlehre" von Hermann Samuel Reimarus.- In: Logik im Zeitalter der Aufklärung. Studien zur "Vernunftlehre" von Hermann Samuel Reimarus, hrsg. von Wolfgang Walter und Ludwig Borinski (= Veröffentlichung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg, Nr. 38), Göttingen 1980, S. 9-32.

 


aus: Protokoll des 49. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 7. Juli 1990