Aus dem Protokoll des 50. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 24. November 1990

 

Wilhelm Ott (Tübingen)

20 Jahre Abteilung LDDV / 50 Kolloquien: ein kurzer Rückblick

Daß wir im Rahmen des 50. Kolloquiums auf das 20jährige Bestehen der Abteilung LDDV zurückblicken können, ist vor allem Ergebnis einer guten und konstruktiven Zusammenarbeit über Instituts- und Fakultätsgrenzen hinweg, wie sie in Geisteswissenschaften sonst nicht gerade sprichwörtlich ist. Zu danken ist dies auch der Aufgeschlossenheit der Universität Tübingen für die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften und ihrer Weitsicht, die nicht nur das Kolloquium von 1960 ermöglicht, sondern ein Jahrzehnt später zur Schaffung einer eigenen Abteilung für diese Aufgaben geführt hat. Auch die sonst übliche Vernachlässigung der Förderung geisteswissenschaftlicher Forschung hat sich zumindest bezüglich der Möglichkeiten EDV-gestützten Arbeitens in Tübingen noch nicht hindernd bemerkbar gemacht; seit 1970 konnten die Substanz immer gewahrt und die Arbeitsmöglichkeiten einigermaßen der Entwicklung angepaßt werden; durch die Zusatzförderung in den Jahren 1985-1989 im Rahmen des Landesforschungsförderungsprogramms (für den Forschungsschwerpunkt "Wissenschaftliche Textdatenverarbeitung") konnte ein gesunder Grundstock für die weitere Arbeit gelegt werden.

Die in den 50 Kolloquien behandelten Themen lassen die Vielfalt der Aufgaben erkennen, die mit EDV-Hilfe in den Geisteswissenschaften bearbeitet werden, aber auch die Anforderungen an das Werkzeug, das dafür benötigt wird und das in Tübingen in den letzten 25 Jahren entstanden ist.

Die ersten Aufgaben, für die am ZDV zunächst maßgeschneiderte, auf das Einzelproblem genau zugeschnittene Programme geschrieben wurden, waren: Untersuchungen zur Metrik lateinischer Hexameter, Konkordanz zur Vulgata (ein von der DFG gefördertes Projekt des Vetus Latina Instituts Beuron), Satzherstellung für einen Trakl-Index, der an der Universität des Saarlandes entstanden war, Edition und Index zu den Werken von Heinrich Kaufringer.
An der Arbeit an diesen und anderen Projekten wurde sehr schnell zweierlei deutlich:

Die Antwort auf diese Einsicht bestand darin, eine Reihe von Programmen bereitzustellen, von denen jedes jeweils nur einen dieser elementaren Arbeitsschritte zu erledigen und das Ergebnis jeweils auf einer Datei abzulegen hatte. Diese Datei mußte als Eingabedatei für jedes andere Modul benutzt werden können.

Als Voraussetzung für die Portabilität von Kommandoprozeduren und Daten mußte eine einheitliche Benutzeroberfläche auch für die Leistungen hinzukommen, die normalerweise das Betriebssystem erbringt, wie Dateiverwaltung oder die Definition von Kommandoprozeduren. Nur so war es zu ermöglichen, daß ein Rechnerwechsel nicht katastrophale Auswirkungen auf längerfristige Projekte hat oder daß einzelne Arbeitsschritte wahlweise auf PC oder Großrechner ausgeführt werden können.

Mit einem solchen Werkzeug ist der Gesamtablauf nach jedem Einzelschritt unterbrechbar und ggf. durch andere Programmschritte ergänzbar. Das ergibt eine mit anderen Mitteln nicht erreichbare Flexibilität. Andererseits zwingt dies den Anwender, sein Problem selbst zu analysieren und in die Elementarschritte zu zerlegen, die den angebotenen Grundfunktionen entsprechen. Der Computer wird so kein Problemlösungsautomat, dessen Algorithmen nicht durchschaubar sind und der schon recht haben wird, sondern er bleibt Werkzeug, für dessen Ergebnisse der Anwender die Verantwortung selbst übernehmen kann.

1977 war das "Tübinger System von Textverarbeitungsprogrammen" so weit entwickelt, daß auch die Ausbildung geisteswissenschaftlicher EDV-Anwender in Tübingen umgestellt werden konnte: Kurse in TUSTEP traten an die Stelle der bis dahin angebotenen FORTRAN-Kurse für Geisteswissenschaftler.

Dies hat sich auch außerhalb Tübingens herumgesprochen. 1976 hat uns die Universität Würzburg gebeten, ihr diese Programme zur Verfügung zu stellen. 1977 kamen Hamburg und Marburg hinzu. Inzwischen ist TUSTEP an etwa 60 Hochschulen im Einsatz; an zwei deutschen Universitäten - Tübingen gehört nicht dazu - ist TUSTEP zum Pflichtbestandteil eines Aufbaustudiengangs geworden.

Paul Fortier aus Manitoba/Kanada beklagte im Juni diese Jahres auf der ACH/ALLC-Konferenz in Siegen bezüglich der EDV-Anwendungen in den Geisteswissenschaften: "We concentrated first of all on what could be done easily ... Our methods were to a large extent borrowed from other disciplines which had preceded us in the use of computers. ... electronic applications tended to overshadow literary methodology ... Thus, while we were learning new techniques or programming languages, interest in literary studies has moved away from us ... It is incumbent on us to broaden our focus from the technology, and pay serious attention to the pressing questions of the interpretation of literature which contemporary theoreticians have left unresolved."

Wie ein Blick auf die Tübinger Kolloquiumsthemen bestätigt, war die Gefahr, sich seine Methoden von der Maschine aufdrängen zu lassen, hier offensichtlich geringer als anderswo. Zum einen mußten hier nie Aufgaben für bestehende Lösungen gesucht werden. Zum andern entfällt, wenn ein flexibles Werkzeug verfügbar ist, die Notwendigkeit, sich auf das zu beschränken, was leicht zu programmieren ist.

Es macht also auch künftig Sinn, vorrangig nicht vorgefertigte, auf den sprichwörtlichen Knopfdruck abrufbare Lösungen anzustreben, sondern aus dem Bedarf der Einzelprojekte heraus den Werkzeugkasten zu vervollkommnen und zu modernisieren.


aus: Protokoll des 50. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 24. November 1990