Aus dem Protokoll des 51. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 9. Februar 1991

 

Volker Trugenberger (Stuttgart)

Archivalien-Erschließung mit EDV in der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg:
das Beispiel Reichskammergerichtsakten

Bis in die Karolingerzeit zurück reicht die vielschichtige, über 100 Regalkilometer umfassende staatliche Überlieferung zur Geschichte Südwestdeutschlands und seiner Menschen. Die Erhaltung, Ergänzung und Nutzbarmachung dieser Überlieferung ist der staatlichen Archivverwaltung des Landes Baden-Württemberg anvertraut. Als Zentren der Dokumentation und Stätten der Forschung gibt es sechs Staatsarchive: das Hauptstaatsarchiv Stuttgart, das Staatsarchiv Ludwigsburg mit der Außenstelle Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein, das Generallandesarchiv Karlsruhe, das Staatsarchiv Freiburg, das Staatsarchiv Sigmaringen und das Staatsarchiv Wertheim. Die in den Staatsarchiven verwahrten Originaldokumente stammen von weltlichen und geistlichen Herrschaften des Heiligen Römischen Reiches und deren Nachfolgestaaten, soweit sie 1952 im Bundesland Baden-Württemberg aufgegangen sind. Diese Geschichtsdokumentation wird laufend systematisch ergänzt. Sobald eine Landesbehörde oder ein Gericht Unterlagen für die Aufgabenerfüllung nicht mehr benötigt, wählt der Archivar diejenigen Materialien aus, die als Rechts- und Geschichtsquellen bleibenden Wert haben. Jährlich kommen so ca. 2000 Regalmeter neu in die Staatsarchive, die bestehenden Archivbeständen zugeordnet werden oder neue Bestände bilden.

Die Erschließung der Archivalien erfolgt bestandsweise durch das sogenannte Verzeichnen: Der Archivar fertigt für die einzelnen Archivalieneinheiten eines Bestandes - seien es Urkunden, Amtsbücher, Akten, Karten und Pläne oder anderes - kurze Inhaltsangaben verbunden mit einer formalen Beschreibung, die im wesentlichen Signatur, Umfang und Entstehungsjahr beziehungsweise bei Akten die Laufzeit umfaßt. Diese sogenannten Titelaufnahmen werden dann in Findbüchern oder Repertorien zusammengestellt, mit deren Hilfe der Benutzer diejenigen Originalunterlagen ermitteln kann, die er für seine Fragestellung benötigt. Seit 1986 werden bei der Erschließung auch PCs eingesetzt. An MIDOSA, dem "Mikrocomputer-unterstützten Informations- und Dokumentationssystem für Archive" der staatlichen Archivverwaltung, partizipieren zwischenzeitlich alle baden-württembergischen Staatsarchive und Außenstellen unabhängig vom Standort. MIDOSA unterstützt die bewährte traditionelle Methode des Verzeichnens. Zusätzlich wird am Aufbau einer Referenzdatenbank gearbeitet, die auch einen direkten Online-Zugriff auf die erfaßten Daten ermöglichen wird. Der Online-Zugriff wird allerdings lediglich als eine Option betrachtet, die die traditionellen Findbücher ergänzt, sie aber nicht völlig ersetzen kann. Im Rahmen von MIDOSA wurden bis Ende 1990 über 180.000 Datensätze erfaßt. Angesichts dieser positiven Erfahrungen mit der EDV lag es nahe, auch die Verzeichnung der in den baden-württembergischen Staatsarchiven verwahrten Akten des ehemaligen Reichskammergerichts EDV-gestützt durchzuführen.

Das Reichskammergericht, dessen Errichtung 1495 auf dem Reichstag von Worms beschlossen wurde, war das oberste Gericht des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Es hatte seinen Sitz bis 1689 in Speyer, dann in Wetzlar. Als Erstinstanz war es zuständig für Fälle von Landfriedensbruch und für Prozesse gegen reichsunmittelbare Fürsten, Grafen, Herren und Städte. Als Appellationsinstanz war es oberstes Berufungsgericht für Stadt- und Landgerichte, sofern eine solche Berufung nicht durch ein entsprechendes kaiserliches Privileg ausdrücklich ausgeschlossen war. Das Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 bedeutete auch das Ende des Reichskammergerichts. 1821 beschloß der Deutsche Bund als Rechtsnachfolger des Reiches, die Prozeßakten des Gerichts unter seinen 39 Mitgliedsstaaten zu verteilen. Als Kriterium diente der Wohnsitz des Beklagten, bei Appellationsprozessen der Sitz der Vorinstanz. Aufgrund dieser Verteilungsaktion des vorigen Jahrhunderts befinden sich heute in den baden-württembergischen Staatsarchiven die Reichskammergerichtsunterlagen zu insgesamt 8633 Prozessen, davon 5445 im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, 2840 im Generallandesarchiv Karlsruhe, 330 im Staatsarchiv Sigmaringen und 18 im Staatsarchiv Wertheim. Um die Akten überhaupt verteilen zu können, wurde nach 1821 in jahrelanger Arbeit ein 45bändiges Generalrepertorium angelegt, ein Findbuch aller damals noch vorhandenen Prozeßakten. Dieses ist alphabetisch nach den Namen der Kläger geordnet. Die einzelnen Bundesstaaten ließen sich aus dem Generalrepertorium die Einträge über diejenigen Akten exzerpieren, die sie bei der Verteilung erhielten. Das Generalrepertorium selbst konnte natürlich ebensowenig wie die Urteilsbücher des Gerichts oder dessen Sitzungsprotokolle und Verwaltungsakten verteilt werden. All diese Unterlagen verblieben in Wetzlar und kamen 1924 nach Frankfurt, wo sie noch heute von einer Außenstelle des Bundesarchivs betreut werden.

Das Generalrepertorium und die daraus gefertigten Exzerpte (die in den Archiven meistens als alleiniges Findhilfsmittel dienten) enthalten nur höchst knappe Angaben: die Namen der Kläger, der Beklagten, einen kurzen Betreff und gegebenenfalls die Vorinstanzen. Mit diesen wenigen Angaben waren die Reichskammergerichtsakten natürlich keineswegs ausreichend erschlossen, obwohl sie eine wichtige Überlieferung für die Erforschung der politischen, Rechts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte sind. Ein einzigartiger Dokumentationswert kommt auch den vielen handgezeichneten Karten zu, die häufig Ortsansichten aus dem 16. und 17. Jahrhundert aufzuweisen haben.

Angesichts der unbefriedigenden Erschließungssituation wurden in den Archivverwaltungen des Bundes und der Länder 1977/78 Überlegungen angestellt, wie die Reichskammergerichtsakten bundesweit für die Forschung besser nutzbar gemacht werden könnten. Es wurden Grundsätze für die Erfassung erarbeitet, die die Mindesterfordernisse einer befriedigenden Verzeichnung nennen. Die Grundsätze sehen ein verbindliches Schema der Titelaufnahme vor mit acht Hauptgruppen: Signaturen und Laufzeit, Kläger, Beklagte(r), Prokuratoren (Anwälte, die die Prozeßparteien vor dem Gericht vertraten), Streitgegenstand mit genauer Beschreibung nach Sachen, Ort, Personen und Zeit, Vorinstanzen, Darin-Vermerke für vorgelegte Beweismittel (Urkunden, Karten, Zeugenverhöre) und schließlich Hinweise vor allem auf Umfang und Literatur. Für die Findbücher sind ferner ein Personen- und Ortsindex, ein Prokuratorenindex, ein Index der Vorinstanzen, ein Sachindex sowie ein chronologisches Verzeichnis der Prozesse vorgeschrieben. Im Personen- und Ortsindex müssen die Prozeßbeteiligten besonders hervorgehoben werden, im Sachindex muß bei Begriffen, die häufiger als 30mal vorkommen, zur Unterscheidung jeweils das Jahrhundert angegeben werden, in dem der entsprechende Prozeß stattfand. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) nahm die Verzeichnung der Reichskammergerichtsakten 1978 in ihr Programm zur Förderung der Archive auf. Im September 1978 konnte mit der Inventarisierung zunächst von norddeutschen Beständen des Reichskammergerichts begonnen werden. Zwischenzeitlich ist auch die Erschließung der hessischen Bestände abgeschlossen.

In Baden-Württemberg wurde mit der von der DFG geförderten Erschließung der Reichskammergerichtsakten 1988 begonnen. Seit dem 3. Oktober 1988 verzeichnen im Hauptstaatsarchiv Stuttgart zwei von der DFG finanzierte Wissenschaftliche Angestellte die dortigen Akten, eine weitere Angestelltenstelle am Generallandesarchiv Karlsruhe wird aus Mitteln der Stiftung Kulturgut finanziert. Die drei Angestellten setzen bei ihrer Arbeit ein PC-gestütztes Verfahren ein. Dabei konnte nicht auf das MIDOSA-Standard-Erfassungsprogramm zurückgegriffen werden. Denn dieses arbeitet mit festen Erfassungsmasken, die es ermöglichen, Eingabehilfen und Plausibilitätskontrollen zu definieren, die die Arbeit bei der Datenerfassung erleichtern und helfen, Eingabefehler zu vermeiden. Dadurch ist ein sicheres und fehlerfreies Funktionieren der Verarbeitungsprogramme gewährleistet, da Felder oder Feldkennungen nicht versehentlich weggelöscht werden können. Die festen Masken sind jedoch für eine so komplexe Verzeichnung, wie sie bei den Reichskammergerichtsakten gefordert ist, nicht geeignet, da hier die Länge der Inhaltsangaben bei den einzelnen Titelaufnahmen stark variiert und da viele Sortierfelder gefordert sind, die unterschiedlich häufig bei den einzelnen Titelaufnahmen belegt werden. Da auch die Übernahme des im Hauptstaatsarchiv Düsseldorf für die Verzeichnung der Reichskammergerichtsakten eingesetzten EDV-Verfahrens aus technischen Gründen nicht möglich war, mußte eine neues Verfahren entwickelt werden.

Dieses Verfahren basiert wesentlich auf dem von der Abteilung Literarische und Dokumentarische Datenverarbeitung am Zentrum für Datenverarbeitung der Universität Tübingen entwickelten "Tübinger System von Textverarbeitungs-Programmen" TUSTEP, das über umfangreiche Sortier- und Selektiermöglichkeiten verfügt sowie über ein Unterprogramm, das Dateien für den Lichtsatz aufbereitet. Seit 1989 ist das Verfahren unter dem Namen "TUSTEP-gestützte Erschließung von Reichskammergerichtsakten" TUREKA im Einsatz. TUREKA ist in zwei Komponenten geteilt, in die Erfassung und in die Datenaufbereitung. Die Erfassung der Titelaufnahmen wird von den Bearbeitern auf einem PC vorgenommen. Die Eingabe erfolgt mit Hilfe des auch im Rahmen von MIDOSA eingesetzten Textverarbeitungsprogramms Wordstar. Die verwendete Wordstar-Version 4.0 bietet die Möglichkeit, Makros zu definieren und die Funktionstasten frei mit Befehlen und Befehlsfolgen zu belegen. Das Programm konnte deshalb so angepaßt werden, daß eine komfortable Eingabe möglich ist, die auch den Erfordernissen der späteren Weiterverarbeitung gerecht wird. Zwar ist die Datenerfassung mit Hilfe einer Textverarbeitung ungleich komfortabler als mit einem Datenbanksystem, allerdings ist auch die Anfälligkeit für Eingabefehler sehr viel größer, da keinerlei Plausibilitätskontrollen vorgesehen werden können. Sie stellt deshalb erhöhte Anforderungen an die Exaktheit und Gewissenhaftigkeit der Bearbeiter.

Die Bearbeiter bedienen sich einer Erfassungsmaske, die entsprechend den DFG-Richtlinien gestaltet ist. Bereits bei der Datenerfassung sehen sie Auszeichnungen für die spätere Druckfassung vor. So ist vorgeschrieben, daß der Name des Klägers, der für die alphabetische Einordnung des Prozesses im Generalrepertorium maßgeblich war, fett gedruckt werden soll. Ferner können die Bearbeiter die Indexbegriffe im Text kennzeichnen, indem sie durch einfachen Funktionstastendruck Markierungszeichen an den Wortanfang und das Wortende setzen. Da in der Regel mehrgliedrige Indexbegriffe, insbesondere Personennamen, in der Titelaufnahme nicht in der Reihenfolge erscheinen, wie sie im Index aufgeführt werden sollen, haben die Bearbeiter auch die Möglichkeit, die Reihenfolge der Bestandteile des Indexeintrags durch weitere Markierungszeichen festzulegen. Diese werden ebenfalls über Funktionstasten aufgerufen. Auf diese Weise ist sichergestellt, daß beispielsweise ein Prokurator, der als "Dr. Georg Goll" in der Titelaufnahme steht, im Index als "Goll, Georg, Dr." ausgeworfen wird. Zusätzliche Informationen für den Index (etwa Ortsidentifikationen) können miterfaßt werden, ohne daß sie später im gedruckten Text erscheinen. Umgekehrt können einzelne Zeichen oder Zeichenfolgen innerhalb eines markierten Indexbegriffes im Index ausgeklammert werden, beispielsweise ein Genetiv-s. Neben der Möglichkeit, Indexbegriffe im fortlaufenden Text zu markieren, haben die Bearbeiter auch die Option, Indexbegriffe gesondert in eigenen Indexzeilen zu erfaßen. Bei mehrgliedrigen Indexbegriffen bewirkt das Setzen eines Steuerzeichens, daß das Verarbeitungsprogramm Haupt- und Unterbegriff (Haupt- und Nebeneingang nach DIN 31630) automatisch vertauscht und so einen zweiten Indexeintrag erzeugt. In der praktischen Arbeit markieren die Bearbeiter einfach strukturierte Indexbegriffe unmittelbar. Die übrigen Indexbegriffe vergeben sie in der Regel nach der Fertigstellung der Titelaufnahme in eigenen Indexzeilen, da die Indexmarkierungen beim Schreiben und bei Korrekturdurchgängen das Verständnis des Textes stören. Dieses Verfahren hat sich auch deshalb bewährt, weil nach den DFG-Richtlinien zahlreiche Personen mehrfach im Index ausgeworfen werden müssen, beispielsweise Frauen sowohl unter dem Familiennamen des Mannes als auch unter ihrem Mädchennamen.

Das Aufrufen des Erfassungsprogramms ist in die AUTOEXEC.BAT-Datei integriert. Nach dem Starten des Gerätes wird automatisch das Textverarbeitungsprogramm aufgerufen, und das Erfassungsformular erscheint auf dem Bildschirm. Die Datenspeicherung erfolgt auf Diskette, was sich auch bei MIDOSA bewährt hat. Die Anzahl der Dateien und die Dateigröße auf der Diskette ist beschränkt, so daß selbst ein Totalverlust einer Diskette nicht die Auswirkungen hat, wie der Ausfall einer Festplatte. Außerdem ist ein problemloser Datenaustausch zwischen einzelnen PCs gewährleistet. Für die Bearbeitung werden die Daten automatisch auf die Festplatte des PC kopiert, von wo sie nach Beendigung der Arbeitssitzung wieder auf die Datendiskette sowie auf eine Sicherungsdiskette zurückkopiert werden. Der Bearbeiter wird vom Programm jeweils aufgefordert, die entsprechenden Disketten einzulegen. Eine weitere Sicherungskopie wird auf der Festplatte des Computers angelegt.

Die mit Wordstar erfaßten Daten werden für die Weiterverarbeitung über das ASCII-Format in das TUSTEP-Format konvertiert. Auf der Basis von TUSTEP wurden spezielle Programme entwickelt, um die erfaßten Daten automatisch selektieren zu können. Diese Programme erzeugen eine Datei der Titelaufnahmen im Ausgabeformat und die vorgeschriebenen Indices, den Personen- und geographischen Index, den Prokuratorenindex, den Index der Vorinstanzen, den Sachindex, sowie ein chronologisches Verzeichnis der Prozesse. Das Ausgabeformat entspricht in seiner Gestaltung den bisher erschienenen Inventaren. Beim Personen- und geographischen Index wird die in den Verzeichnungsrichtlinien vorgeschriebene Auszeichnung von Prozeßbeteiligten automatisch vorgenommen. Beim Sachindex überprüft eine Programmroutine die Häufigkeit des Vorkommens und fügt entsprechend den Richtlinien bei Begriffen, die häufiger als 30 Mal vorkommen, aus der Laufzeitangabe das Jahrhundert hinzu, in das die jeweiligen Prozesse fielen. Bei beiden Indices ist neben der alphabetischen Reihenfolge eine Ausgabe in Reihenfolge der Titelaufnahmen für Korrekturzwecke möglich. Die erzeugten TUSTEP-Dateien werden zum Korrekturlesen über einen Laserdrucker ausgegeben. Die TUSTEP-Programme können mit geringfügigen Modifikationen jedoch auch später eingesetzt werden, um die Daten für den Satz aufzubereiten.

Die drei Bearbeiter, die im Rahmen des DFG-Projekts zur Zeit im Hauptstaatsarchiv Stuttgart und im Generallandesarchiv Karlsruhe mit der Erfassung der Titelaufnahmen betraut sind, haben sich in kurzer Zeit in die Handhabung des Erfassungsprogramms eingearbeitet. Allein in Hauptstaatsarchiv Stuttgart sind seit Oktober 1988 über 1800 Titelaufnahmen erfaßt worden. Die Veröffentlichung eines ersten Bandes des Inventars ist für 1992 vorgesehen.


aus: Protokoll des 51. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 9. Februar 1991