Aus dem Protokoll des
52. Kolloquiums
über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 6. Juli 1991
Hadumod Bußmann (München)
Lexikon der Sprachwissenschaft:
EDV-gestützte Redaktion und Herstellung.
Ein Werkstattbericht
Man lass ein Wörterbuch nur den Verdammten schreiben.
Dies' Angst wird wohl der Kern von allen Martern bleiben.
(J.C. Scaliger)
1. Inhaltliche Gesamtkonzeption des Handbuchs
Hauptziel des zwischen 1973 und 1983 in erster Auflage entstandenen Lexikons war eine
umfassende Bestandsaufnahme und verständliche Erläuterung der Fachterminologie
der synchronen und der diachronen Sprachwissenschaft.
Mit dem Deutschen und damit zugleich der "germanistischen" Sprachwissenchaft
als Ausgangsbasis wendete sich dieses Nachschlagewerk an Lehrende und
Lernende aller philologischen und sprachwissenschaftlichen Disziplinen, aber
auch an Vertreter von Nachbardisziplinen sowie an jeden, der an der
theoretischen oder praktischen Beschäftigung mit Sprache interessiert ist.
Die Entstehungsweise dieses 1983 erstmalig erschienenen Handbuches
unterscheidet sich grundlegend von der der Neubearbeitung (1986-1990): Neben
der hauptberuflichen Lehrtätigkeit in zehnjähriger Einzelarbeit hergestellt,
waren damals Zettelkasten, Schreibmaschine, Schere, Klebstift und Kopierer
die einzigen Hilfsmittel, um die ca. 3000 Einträge in eine angemessene
lexikographische Form zu bringen.
Unter Beibehaltung der lexikographischen
und stilistischen Maßstäbe der 1. Auflage unterscheidet sich die neue -
durch EDV gestützte - Ausgabe vor allem in folgenden Punkten:
- Der gesamte ursprüngliche Bestand wurde durch Streichungen obsolet
gewordener Einträge und durch Kürzung redundanter Textpassagen gestrafft
und im Hinblick auf neuere Tendenzen und Ergebnisse
erweitert, neu gewichtet, aktualisiert.
- Der inhaltliche Bestand wurde um solche Bereiche ergänzt, die entweder in
der ersten Auflage noch nicht hinreichend repräsentiert waren
(Konversationsanalyse, außereuropäische Sprachen u.a.) oder sich erst in
den achtziger Jahren als fruchtbare Teildisziplinen entwickelt haben
(Computerlinguistik, Künstliche Intelligenz-Forschung,
Unifikationsgrammatiken u.a.).
- Die vorherrschend germanistische Forschungsperspektive der ersten Auflage
wurde modifiziert zugunsten einer sprachübergreifenden und internationaleren
Ausrichtung, in der das Deutshe zwar weiterhin primäre Bezugs- und
Beispielsprache blieb, sprachvergleichende (universelle) Phänomene und
Hypothesen aber in Erläuterungen, Beispielen und
Bibliographien verstärkt berücksichtigt wurden.
- Diese Modifikationen wurden möglich durch die Verteilung der fachlichen
Verantwortung auf ein Team von 16 Fachkolleginnen und
-kollegen, die je nach Kompetenz die Bearbeitung eines oder
mehrerer Teilbereiche übernahmen.
- Da synchron zu dem Entstehen dieser Neuausgabe ein Übersetzerteam am
Department of German der University of California, Berkeley an der Umsetzung
der Artikel für eine englische Ausgabe des Lexikons arbeitete (Verlag
Routledge, London), fand gleichzeitig ein fruchtbarer Austausch zwischen
deutschen und englischen Mitarbeitern statt.
- Die Gesamtproduktion wurde auf elektronische Verarbeitung umgestellt:
TUSTEP mit seinen umfangreichen Sortier- und Selektiermöglichkeiten und
seinem Programm zur Lichtsatz-Aufbereitung erwies sich
dabei als optimale Lösung.
2. Redaktion und technische Herstellung
Die fachlich und regional komplexe Ausgangslage führte zu einer sehr
inhomogenen Manuskriptherstellung, die nicht zu meistern gewesen wäre ohne
elektronische Hilfsmittel und eine zweijährige Unterstützung des Projekts
durch die DFG.
Der Originaltext erlebte mehrfache Metamorphosen: Zunächst
wurde er durch ein eigens für diesen Zweck entwickeltes Programm von
Manfred Krifka von Linotype-Bändern in WORDSTAR-Format überführt und
mittels eines Konkordanz-Programms die Herstellung von Lemma-Listen bzw.
Artikelausdrucken nach bestimmten Kriterien (z.B. Ausdruck von
Teilbereichen für die einzelnen Mitarbeiter) ermöglicht.
Ein weiteres Konvertierungsprogramm (Fereidon Khanide) war notwendig, um in einem
späteren Stadium von dem umständlichen WORDSTAR auf das von den
amerikanischen Übersetzern favorisierte, sehr flexible Textverarbeitungsprogramm
NOTABENE (Dragon Fly, New York) umzusteigen, dessen Umsetzung in
TUSTEP sich im weiteren Verlaufe der Arbeit sehr bewährt hat. Besonders
günstig beeinflußt wurde der weitere Produktionsprozeß dadurch, daß eine
Mitarbeiterin des Lexikon-Projekts (Frau Suzan Hahnemann) in Tübingen einen
dreiwöchigen TUSTEP-Kurs absolvierte und damit als Verbindungsfrau zwischen
der Münchener Redaktion und der Tübinger TUSTEP-Szene in hohem Maße zum
reibungslosen technischen Ablauf beizutragen vermochte.
Das Gesamtmanuskript setzte sich aus 20 einzelnen Bereichs-Dateien
(Phonologie, Morphologie, Syntax u.a.) zusammen, die in unregelmäßigen
Zeitabständen eingingen, mehrfach redaktionell überarbeitet werden mußten,
eine unterschiedliche Komplexität bei den verwendeten Sonderzeichen
aufwiesen, so daß einzelne Teile vier bis sechs TUSTEP-Durchgänge passierten.
Wichtig für die Eingabe war, daß rechtzeitig
detaillierte Vereinbarungen getroffen wurden über
Auszeichnungen für Kapitälchen (Eigennamen), Fettschrift (Lemmata),
Kursive (Objektsprache u.a.) sowie
für eine Vielzahl von Indizierungen.
Diese waren vorgesehen für die Herstellung verschiedener Listen, z.B.
zur Kontrolle der Verweisstichwörter,
zur orthographischen Überprüfung der Forscher- und
Autorennamen,
für ein Register der englischen Terminologie,
für Hinweise auf Sprachenkarten, Abbildungen u.a. m.
Frühzeitig zu bedenken bei einem mehrsprachigen Text sind die unterschiedlichen
Trennungsvorschriften in Deutsch und Englisch/Französisch (vgl.
Lin-gui-stik vs. lin-guis-tics/lin-guis-tique). Die unbegrenzte Möglichkeit
zu flexibler Tastenbelegung in NOTABENE war bei der automatischen
Kennzeichnung der jeweiligen Trennfugen eine große Hilfe.
Die größten technischen Schwierigkeiten bereiteten die Eingabe und
Umsetzung der vielfältigen Sonderzeichen aus Mathematik, Logik, Mengenlehre,
Phonetik und nicht-lateinischen Alphabeten (z.B. Kyrillisch). Soweit wie
möglich stützen wir uns dabei auf das Handbuch von Geoffrey K.
Pullum/William A. Ladusaw: Phonetic Symbol Guide (Chicago 1986). Da
komplexe Diakritika über NOTABENE nur unzulänglich einzugeben waren, die
vorhandenen TUSTEP-Sonderzeichen zunächst nicht ausreichten, außerdem der
Laser-Drucker die Sonderzeichen nur verschlüsselt wiedergab (und
aufwendige Belichtungen erst zu einem relativ späten Zeitpunkt angefertigt
wurden), waren die ersten Ausdrucke unvollständig und mehrfache
Korrekturgänge (auch für die Einzelautoren) notwendig. Zudem wird durch
die komplizierte Kodierung der Sonderzeichen ihre
Überprüfbarkeit am PC-Bildschirm sehr erschwert.
3. Vorkehrungen für künftige Auflagen
Ideal für AutorInnen und Redaktion wäre eine Rückkonvertierung des im Druck
vorliegenden endgültigen Textes von TUSTEP in NOTABENE, damit alle
Korrekturen, Revisionen und Ergänzungen in der gewohnten heimischen
PC-Umgebung stattfinden könnten und auch die externen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf
diese Weise an einem Ausdruck des für sie zuständigen Bereichs
weiterarbeiten könnten. Da aber selbst bei einer Konvertierung in ASCII
alle Auszeichnungen und Sonderzeichen verloren gingen, scheint es angezeigt,
die Korrekturen in einem (fotomechanisch vergrößerten) Papierausdruck
der Buchfassung vorzunehmen und diese Veränderungen dann direkt in
TUSTEP einzugeben. Im Anschluß daran wird der revidierte Text dann
wieder durch verschiedene mechanische Korrekturvorgänge (Listenausdrucke
zur Kontrolle der Verweisstichwörter, Trennungen, Abkürzungen u.a.)
in die endgültige Form gebracht - wodurch bei Erscheinen der nächsten
Auflage dann hoffentlich der Scaliger-Fluch (vgl. das Eingangsmotto) ein
für allemal widerlegt sein wird!
Anmerkung:
Hadumod Bußmann:
Lexikon der Sprachwissenschaft.
2., völlig neu bearbeitete Auflage,
Stuttgart: Kröner 1990
(Kröners Taschenausgabe, Bd. 452)
904 S., ISBN: 3-520-45202-2
aus:
Protokoll des 52. Kolloquiums
über die Anwendung
der EDV in den Geisteswissenschaften am 6. Juli 1991