Im alten Herzogtum Württemberg waren die Gemeinden von der - oftmals gar nicht so ehrbaren - altwürttembergischen "Ehrbarkeit", einem eng verflochtenen Familienfilz, verwaltet und kontrolliert worden, gegen den bereits im 18. Jahrhundert - etwa mittels politischer Flugschriften - Stimmen laut wurden. Es lag im Wesen der aufgeklärt-absolutistischen Regierung des ersten Königs, daß jener zwar das jahrhundertealte Selbstergänzungsrecht der Magistrate aufhob, es aber nicht durch Wahlen, sondern durch staatliches Einsetzen der Magistrate ersetzte. Erst im Entwurf einer Verfassung, den König Friedrich I. 1815 seinem Volk vorlegte - und sicher in Kenntnis der Steinschen Reformen in Preußen - war die Wahl der Magistrate durch die Ortseinwohner vorgesehen.
Nach dem überraschenden Tod Friedrichs wird dessen Sohn Wilhelm 1818/22 das Werk des Vaters fortsetzen und nicht nur die Wahl der Magistrate, nun Gemeinderäte genannt, den Bürgern im engeren Sinne (Ortseinwohner im Besitz des Bürgerrechts) zugestehen, sondern auch den selbstherrlichen Ortsobrigkeiten mit den sogenannten - ebenfalls gewählten - "Bürgerausschüssen" ein Kontrollorgan entgegensetzen. Anders als die Bürgerausschüsse wurden die Gemeinderäte allerdings zunächst noch auf Lebenszeit gewählt. Eine Bestimmung, gegen den die "Volksfreunde" und später die Liberalen bis zur Revolution 1848/49 im württembergischen Landtag, insbesondere aber in den Gemeindewahlkämpfen selbst, in immer neuen Anläufen protestieren werden, um schließlich einen unzweifelhaften Sieg - vielleicht den einzigen im Vormärz - über die Regierung zu erringen.
Eine Lücke im "Verwaltungsedikt", in dem auch die Wahlrechte und Amtszeiten der kommunalen Mandatsträger festgelegt waren, bot der Opposition Gelegenheit, den Willen des Gesetzgebers auf legalem Weg zu umgehen: Die württembergischen Gemeinderäte wurden zunächst auf zwei Jahre "auf Probe" gewählt; wurden sie dann in Folge direkt wiedergewählt - und nur dann! - galten sie auf Lebenszeit bestätigt. Die Liberalen erhoben nun zum Programm, grundsätzlich keinen Gemeinderat nach seiner "Probezeit" im Amt zu bestätigen, ja besser noch, schon von vornherein nur solche Kandidaten zu unterstützen, die bereits bei der ersten Wahl versprachen, für eine direkte Wiederwahl nicht zur Verfügung zu stehen.
Das liberale "System" funktionierte bald bestens: Zunächst in den größeren Städten, dann in den Landstädten und kurz vor 1848 auch vermehrt auf dem Land wurden immer mehr "zweijährige" Gemeinderäte gewählt. Da das Gesetz aber im Grund von lebenslänglichen Gemeinderäten ausging und Neuwahlen nur beim Tod eines Amtsinhabers vorsah, also jede freiwerdende Stelle einzeln besetzt wurde, mußte sich die Anzahl der Wahlen vervielfältigen: In Ulm etwa sind bis zu fünf Gemeindewahlen jährlich nachzuweisen, dazu trat noch die jährliche Bürgerausschußwahl - und es bestand Wahlpflicht.
Die häufigen Wahlen (und damit Wahlkämpfe) eröffnen dem Historiker die seltene Chance, nicht nur die politische Programmatik der frühliberalen Bewegung sowie deren Entwicklung, ihre Erfolge und Niederlagen, zu erforschen, sondern auch das Sozialprofil der Bewegung und ihr Wirken in den verschiedenen Schichten der Gesellschaft zu untersuchen. Insbesondere die Wahlanzeigen in der Presse, die häufig mit (bis zu 300) Unterschriften versehen waren, boten sich hierzu nachgerade an.
Drei Arbeitsziele standen im Mittelpunkt des EDV-Einsatzes:
Der nächste Arbeitsschritt muß nolens volens "von Hand" erfolgen: die "Identifikation" der Namen mit einer bestimmten Person (oft im Vergleich mit den Adreßbüchern der Zeit). Kein EDV-Programm wird die Assoziationskraft des Wissenschaftlers ersetzen können, etwa das "Wissen", daß Johann Müller (I) aufgrund seines Alters, seiner Lebens- und anderer Umstände unmöglich (oder sehr wahrscheinlich nicht) Kandidat für eine Stelle im Gemeinderat gewesen sein kann, Johann Müller (II) jedoch sehr wohl. Ohnehin galt es, die Dutzende "Johann Müller", "Johannes Müller" (wechselnder Gebrauch!), "J. Müller", "Joh. Müller", "Hans Müller", "H. Müller" oder auch nur "Müller" in mühevoller Arbeit zu entwirren und - sofern möglich - bestimmten Personen zuzuordnen.
Nach der "Identifikation" und der Zusammenfassung der Namen (Zuordnung anhand ergänzter Ordnungsnummern) sowie dem Ergänzen weiterer Vornamen, des Berufes und etwaiger Zunftämter entstand somit eine neue Urdatei in folgender Form:
Abbildung 1
Murschel, Wilhelm Heinrich: Rechtskonsulent
- 1823/06 BA GB | - 1840/05 GR UL BG |
- 1826/07 BA GB #.{OBM#.} | - 1840/11 GR UL BG |
- 1830/09 BA GB | - 1842/01 GR UL BG |
- 1830/10 UL (Silberhelm) lib. | - 1842/07 BA VL BG #.{OBM#.} |
- 1830/10 AS (prov.) Bgarde | - 1842/07 BA GB #.{OBM#.} <1446> |
- 1831/03 AS Bgarde | - 1843/01 GR UL BG |
- 1831/06 SamStelle PlnKom. | - 1843/04 Spd.-Kom. Walz BG-nahe |
- 1831/09 LT Wahl-AS BG (wohl!) | - 1843/06 GR UL BG |
- 1831/12 PlnKom. | - 1844/06 GR UL BG |
- 1832/05 GR VL BG | - 1844/09 GR VL BG (!) |
- 1832/05 GR SG | - 1844/09 GR VL GL ("einige B."/Text) |
- 1832/05 Spender f. HW-Strafe | - 1844/09 GR GG <1252> |
- 1833/02 OVS S-OVS <371> | - 1844/11 LT UL BG |
- 1834/07 BA VL BA #.{OBM#.} | - 1844/11 LT VL (führ. Organis.) BG |
- 1834/07 BA GB #.{OBM#.} | - 1845/02 GR UL BG |
- 1835/04 GR UL BG | - 1845/07 GR UL BG |
- 1835/07 BA UL BA | - 1846/09 GR UL BG |
- 1835/10 GR UL BG | - 1847/02 GR UL BG |
- 1836/01 GR UL BG | - 1847/05 UL gg. Militär pol. gem. |
- 1836/03 GR UL BG (!) | - 1847/05 UL gg. Militär (N.-Klage) |
- 1836/08 BA UL BA | - 1847/05 Aussage gg. Militär (LT 1848) |
- 1836/09 GR UL BG | - 1847/07 GR UL BG |
- 1838/03 GR UL BA/BG | - 1848/04 gWk GK |
- 1838/08 BA VL BG #.{OBM#.} | - 1848/10 GR UL BG |
- 1838/08 BA GB #.{OBM#.} <1502> | - 1849/03 GR UL BG/BV |
- 1838/10 GR UL BG | - 1849/07 LVS Wahl-AS VPi.k. S. <99> |
- 1839/08 BA UL BG | - 1849/09 GR UL BG |
- 1840/01 GR VL BG (!) | - 1849/10 BA VL BG #.{OBM#.} |
- 1840/01 GR VL GL (mit UL!) (!) | - 1849/10 BA GB #.{OBM#.} <1134> |
- 1840/01 GR GG <1280> |
Die Referenzen sind wie folgt aufgebaut:
1. Jahr/Monat,
2. Anlaß der Meinungsäußerung (GemeindeRatswahl, BürgerAusschußwahl, LandTagswahl),
Art der Liste (etwa: UnterschriftenListe, VorschlagsListe, im VorStand, Gewählt in Gemeinderat, Stimmen erhalten bei Gemeinderatswahl, aber durchgefallen),
politische Tendenz (etwa: BürgerGesellschaft, VolksVerein, GegenvorschlagsListe gegen Liberale).
Spätere Korrekturen und Einfügen weiterer noch entdeckter Listen wurden ausschließlich in dieser Datei vorgenommen, die als einzige Quelldatei für alle späteren Arbeitsgänge und Auswertungen diente.
Auf diese Weise wurde es nun auch möglich, die Zusammensetzung der Stuttgarter Gemeindeparlamente zwischen 1817 und 1849 zu rekonstruieren. Die entsprechenden Archivalien gehören zu den Kriegsverlusten des Stadtarchivs Stuttgart.
Die Sozialprofile wurden mit den TUSTEP-Programmen "Kopiere" (einschließlich dessen Rechenprogramm), "Sortiere" und "Registeraufbereite" erstellt. Zunächst galt es, die über 200 in den Quellen erscheinenden Berufsbezeichnungen zu Berufsgruppen zusammenzufassen. Wir entschieden uns für folgende Gruppen:
1. Beamte (auch städtische Angestellte und Mandatsträger, die ihre Zeit überwiegend der Verwaltungsarbeit opferten),Die Zuordnung der Berufsbezeichnung zu einer der genannten Gruppen erfolgte mittels automatischem Ersetzen der Berufsbezeichnung durch eine Code-Nummer beim Lesen des Personeneintrags aus der Urdatei. Die Programme "Sortiere" und "Registeraufbereite" errechneten sodann den Anteil jeder sozialen Gruppe der speziellen ins Auge gefaßten Liste (Kandidatenvorschlag etc...) Mit dem Rechenteil des Programms "Kopiere" ließen sich auch einzelne Zeitabschnitte aussondern und untersuchen (das Programm suchte aus der Urdatei beispielsweise alle Einträge heraus, die die Wahl einer Person in den Gemeinderat anzeigen, und elimierte mit dem Rechenprogramm sodann alle Einträge, die vor oder nach einer anzugebenden Periode liegen).
2. freie und akademische Berufe,
3. Kaufleute (ohne Unterscheidung des Umfangs der von ihnen getätigten Geschäfte, der sich oft nicht nachweisen läßt),
4. Fabrikanten und Bankiers,
5. Wirte,
6. Weingärtner,
7. Journalisten und Künstler,
8. geistliche Beamte,
9. Hofbeamte und Hofpersonal,
10. Soldaten,
11. Arbeiter
und schließlich die Masse der in den Quellen auftretenden Berufe:
12. die Handwerker, die wir anhand des württembergischen Steuerrechts (das die Handwerker aufgrund des in ihrer Handwerkssparte durchschnittlich erforderlichen Kapital- und Arbeitskräfteeinsatzes vier Steuerklassen zuwies) in vier Teilgruppen unterschieden.
In einem zweiten, ähnlichen Verfahren wurde der Anteil der "Höchstbesteuerten" an ausgesuchten Personenkreisen bestimmt. Anzufügen bleibt, daß es sich als sehr wichtig erwies, nach jedem Rechenvorgang zu prüfen (1. Vergleich der Anzahl eingelesener Personen mit jener des Ergebnisses, 2. ergeben die Prozentzahlen zusammen 100 Prozent?), ob das Programm alle Daten verarbeitete oder aufgrund des nötigen komplizierten Austauschs von Zeichenfolgen beim Einlesen Personen "aussonderte" bzw. "vergaß".
Als wichtige Erkenntnisse aus der fast unendlichen Fülle der möglichen Untersuchungen und Ergebnisse sei hervorgehoben, daß sich der württembergische Frühliberalismus im Vormärz weit weniger sozial-elitär präsentiert, als bisher angenommen wurde. Die große Masse der Unterstützer liberaler Kandidaten etwa stammte aus dem Mittelstand, vor allem aus dem Handwerk. Allerdings wurden dennoch bestimmte Schichten de facto mehr und mehr ausgegrenzt, nämlich insbesondere die in Stuttgart nach hunderten zählende Schicht der Weingärtner, die als bürgerliche Unterschicht das Stimmenreservoir der konservativen Kräfte darstellte, wobei wahrscheinlich pietistische Zirkel das Verbindungsglied zwischen den Unterschichten und obrigkeitlichen Kreisen darstellten. Interessant erschien auch, wie sich "Besitz und Bildung" im Verlauf der Revolution 1848/49 immer mehr den neuen liberal-konservativen Kreisen zuwandten, während die demokratische Volkspartei ihre Mitglieder in ungleich stärkerem Maße aus der unteren Mittelschicht, aber auch aus der frühen Arbeiterschaft rekrutierte. Das schloß nicht aus, daß auch bei den Demokraten einzelne wohlhabende Kaufleute, vor allem aber auch Rechtsanwälte, an vorderster Stelle wirkten.
Erst mit der Gründung der Deutschen Partei Anfang der Sechzigerjahre wurden die Gemeindewahlen wieder Foren politischer Willensäußerung, bald belebt durch die Angriffe linksliberaler Vereinigungen gegen die sich von ihren liberalen Ursprüngen immer weiter entfernenden Deutschen Partei. Deren Wahlsiege konnten aber - zumindest in Ulm, dort garantiert durch eine Allianz der Partei mit der örtlichen "Bürgergesellschaft" - in den meisten Fällen nicht verhindern werden. In den Neunzigerjahren stürzten dann das neu entstandene Zentrum und die wieder legale Sozialdemokratie im Verein mit den Linksliberalen die Herrschaft der Deutschen Partei. Andere Wahlvorschläge, deren es bis zu 25 gab, nämlich kleinere Vereinigungen, wie Berufs-, Stadtteil-, Hausbesitzer- oder Mietervereine, spielten allenfalls das Zünglein an der Waage.
Die Ausgangsdaten - im Falle der Ulmer Untersuchung vorwiegend die Ergebnisse der Gemeindewahlen nach den im Stadtarchiv verwahrten Wahlprotokollen - wurden in der oben dargestellten Art und Weise sortiert und die Personen "identifiziert", anschließend in Form "bereinigter" Listen, nämlich mit ergänzten Vornamen und Berufen, in eine neue Datei "Rekonstruierte Wahlergebnisse", ausgegeben. In dieser Datei wurde mit "Kopiere" hinter jeden Abschnitt (je eine Wahl) ein Gitterraster angefügt (die senkrechten Spalten entsprechen in allen Rastern und bei allen Wahlen derselben Provenienz eines Vorschlags), in das das Erscheinen des Kandidaten (waagrechte Zeile) jeweils mit einer Kennzeichnung eingetragen wurde (eruiert anhand der in der Presse veröffentlichten Wahlvorschläge).
Abbildung 2
Dieses Verfahren erspart dem Bearbeiter die zeitaufwendige Eingabe mehrerer tausend Namen (eine Bürgerausschußwahl mit zehn vorzuschlagenden Kandidaten ergibt bei zwanzig verschiedenen Vorschlagslisten bereits 200 Einträge, zusammen etwa 600 Worte [Name, Vorname(n), Beruf] und macht in Folge eine äußerst arbeitsintensive Abgleichung und Harmonisierung der Einträge nötig), birgt aber die Gefahr von Fehlern beim Eintragen der Kreuze, sowie Personen falsch zuzuordnen. Eine Überprüfung der ausgefüllten Gitterraster durch an der Eingabe nicht beteiligte Personen ist an dieser Stelle dringend zu empfehlen.
Aus dem so entstandenen Raster lassen sich durch Vergleich der Spalten, also der Kreuze, ohne weitere Zwischenstufen druckfertige Tabellen anfertigen, die die Wahlerfolge der einzelnen Listen (Parteien und Vereinigungen) in Form des Prozentsatzes der von ihnen vorgeschlagenen und gewählten Kandidaten wiedergeben (Anteile über einen bestimmten Prozentsatz durch Fettdruck hervorgehoben). Ebenso lassen sich die Allianzen der verschiedenen Gruppierungen (häufig werden Kandidaten auf mehreren Listen genannt - nach vorheriger Absprache), also die Entwicklung der politischen Bewegung verfolgen.
Abbildung 3: Wahlerfolge der Listen (in Prozent)
aus: Protokoll des 54. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 8. Februar 1992