Aus dem Protokoll des 64. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 8. Juli 1995

 

Almut Todorow (Tübingen)

Das Feuilleton der Frankfurter Zeitung während der Weimarer Republik.
Quellenerschließung als Grundlage qualitativer Medienforschung


Die Ausführungen beruhen auf einem mehrjährigen Forschungsprojekt am Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen unter seinem Direktor Gert Ueding, das von der DFG unterstützt wurde und inzwischen abgeschlossen ist. Die Ausgangsfragestellung bezog sich auf rhetorische Prozesse in der öffentlichen Meinungsbildung der Massenkommunikation im 20. Jahrhundert. Dabei interessierten weniger Fragen der Informations- und Nachrichtengebung im engeren Sinne - hier verläuft der main-stream der Publizistik- und Kommunikationsforschung - als vielmehr die Meinungsbildungsprozesse in solchen Bereichen der Massenkommunikation, die sich der gesellschaftlichen und kulturellen Begriffsbildung, Interpretation und diskursiven Sinnproduktion explizit zuwenden oder sie implizit betreiben.

Hier bieten sich das Feuilleton und seine Rhetorik als Forschungsfeld an. Im Feuilleton findet eine kurzzeitige, auf effektive Vermittlung der gesellschaftlichen Alltagspraxis gerichtete Kommunikation ihren Platz, aber auch komplexe Anliegen der Gesellschaft wie ihre Traditionen und Wandlungsprozesse, ihre Machtverhältnisse, Erfahrungen, Moden und Ideologien werden hier erörtert. Das Feuilleton ist eine wichtige Quelle für die Untersuchung massenmedialer Zweck- und Kunstprosa bis hinein in den literarischen und philosophischen Autoren- und Werkkatalog einer Epoche. Das Feuilleton vermittelt damit einen eigenen Zugang zur sprachlichen Formierung von Realitätsvorstellungen, zur Schlagwort- und Toposbildung im publizistischen Diskurs.

Demgegenüber sind die wissenschaftlichen Kenntnisse über das Feuilleton ganz ungewöhnlich defizient: Die Forschung ist bei einem heute veralteten Stand der 'Feuilletonkunde' der sechziger Jahre stehengeblieben, Quellenforschung bis in die letzten Jahre hinein so gut wie nicht betrieben, die publizistische Wirksamkeit der Tageszeitungsfeuilletons im Fluß der Informationen und Meinungen nicht beachtet worden. Abgesehen von Materialausschnitten in verschiedenen monographisch orientierten Untersuchungen (Feuilletonroman, einzelne Autoren) ist das weitverzweigte, beziehungsreiche Material bislang für keine Zeitung zusammenhängend aufgearbeitet und ausgewertet worden.

Eine Erforschung des Feuilletons nach den heute interessierenden kommunikations- und pressehistorischen wie diskursanalytischen Gesichtspunkten muß daher erst neu den Zugang zu ihrem Gegenstand öffnen. Das verlangt den Blick über den Einzeltext hinaus auf das Feuilleton als Institution, das heißt auf das Textensemble und Textkontinuum Feuilleton, außerdem auf das Feuilleton als konstitutiven Teil eines Massenmediums, unter dessen jeweiligen inneren und äußeren organisatorischen, kommerziellen und informationspolitischen Bedingungen das Feuilleton formuliert und publiziert wird.

Die Forschungsziele sind also weitgefächert und liegen auf unterschiedlichen Ebenen - Textebenen, Medienebenen, gesellschaftlich-kulturellen Ebenen. Eine Feuilletonforschung, die diesen Dimensionen gerecht werden will, muß sich zunächst eine ausreichende Materialbasis verschaffen, also eine angemessene Quellenerschließung betreiben. Es muß ein genügend großes Textkorpus dokumentiert und erschlossen werden, in dem das funktionale, strukturelle, thematische und formale Spektrum des Feuilletons mit seinen Entwicklungsprozessen in ausreichender Differenzierung und Kontinuität sichtbar bleibt.

Diese wissenschaftlichen Ziele des Tübinger Projektes und die Weitläufigkeit des Quellengebietes begründen die Entscheidung für eine exemplarische Bearbeitung des Feuilletons einer Tageszeitung in einem abgegrenzten Zeitraum seiner Entwicklung, bzw. die Entscheidung gegen eine vergleichende Untersuchung mehrerer Feuilletons verschiedener Organe. Nach dem "Baukastenprinzip" können längerfristig weitere Feuilletons zugänglich gemacht und die Aufschließung des Quellenbereichs insgesamt vorangetrieben werden.

Für das Tübinger Forschungsprojekt wurde das Feuilleton der seinerzeit international angesehensten deutschen Tageszeitung, der "Frankfurter Zeitung", gewählt, als Untersuchungszeitraum die Weimarer Republik, ein pressehistorisch, kulturpolitisch und literarisch äußerst bewegter Zeitabschnitt.

Die Frankfurter Zeitung erscheint während der Weimarer Zeit an fünf Tagen der Woche dreimal, sonntags und montags zweimal täglich. Seit der Mitte der Zwanziger Jahre enthält die Zeitung in allen Nummern über mehrere Seiten gezogen ein Feuilleton 'unter dem Strich' - er wird bei der Erschließung als Kernbereich betrachtet - sowie, über die Woche verteilt, mehrere Beilagen - Literaturblatt, Für die Frau, Bäderblatt, Für Hochschule und Jugend -, die in unterschiedlicher Erschließungsdichte ebenfalls zum Feuilletonbereich gezählt werden. Die kulturelle Demokratisierung beschleunigt die kulturindustrielle Entwicklung während der Weimarer Zeit erheblich und erfaßt gerade das Feuilleton der großstädtischen Presse mit immer neuen Themen und Formen, mit Aneignungs- und Wandlungsprozessen, die auch zu neuen publizistischen Präsentationsstrukturen führen.

Unter diesen Gesichtspunkten müssen für das Feuilleton heute Erschließungs- und Dokumentationsverfahren erst entwickelt werden. Sie müssen dem Gegenstand, dem Feuilleton, müssen aber auch den wissenschaftlichen Fragestellungen Rechnung tragen, das heißt, daß sie quantifizierende harte wie qualifizierende weiche Daten systematisch erfassen und gut strukturiert zur Verfügung stellen müssen.

Exemplarisch und für weitere Feuilleton- und Zeitungserschließungen übertragbar ist in Tübingen auf der Basis von TUSTEP ein gangbarer Weg für die umfangreiche bibliographische Quellenerschließung und Materialdokumentation entwickelt worden. Dabei ist von Anfang an eine zweifache Ausrichtung verfolgt worden: zum einen die bibliographische Quellenerschließung des Feuilletons und zum anderen eng verbunden damit die auswertende Erforschung der sprachlich-rhetorischen und kulturvermittelnden Strukturen des erfaßten Materials: Nur durch diese Parallelführung von Datenerhebung und Datenaussage-Wertung konnte es gelingen, dem Forschungsgegenstand und seinem synchron wie diachron weitläufigen Material gerecht zu werden. Denn die Materialfülle, die Materialdichte, die Unüberblickbarkeit, die Unmöglichkeit, das Material, außer bei kleineren Stichprobenerhebungen, blätternd vor- und zurücklesend zu durchdringen - all dies sind Erschwernisse der Quellenaufschließung, die eine Orientierung im Material voraussetzen, damit nicht sinnlos Informationen aufgehäuft oder, andererseits, Informationen vernachlässigt werden, deren Kenntnis sich erst nachträglich als wichtig erweist. Wo es nicht um reine Titelverzeichnisse geht, ist für die erschließende Datenaufnahme die Kontextkenntnis notwendig, und wo die Materialerfassung nur über einen großen Zeitraum hin schrittweise erweitert werden kann, ist für die Gewichtung von Daten und für die interpretierenden Perspektiven die enge Rückbindung an das Material unverzichtbar.

Für das Forschungsprojekt galt es, ein Kategorienschema zu entwickeln, das eine angemessene Erfassung und Beschreibung aller vorkommenden Texte gestattet sowie allen Eigentümlichkeiten, die auftreten können, gerecht wird und zugleich so vereinheitlicht und formalisiert ist, daß eine auf elektronische Datenverarbeitung gestützte, weitgehend automatisierte Pflege und Weiterverarbeitung der Daten möglich ist (von der Eingabe am PC bis zur Registererstellung und der Satzvorbereitung). Vor allem der großen Flexibilität und zugleich Komplexität wegen haben sich die speziellen Programme, die auf der Basis von TUSTEP von Paul Sappler entwickelt worden sind, in vollem Umfang bewährt. Sie erlauben während der fortlaufenden Datenerhebung Umstellungen und Modifikationen aller Art, auch zurück im bereits erfaßten Material, sowie Datenvermerke, die für die auswertenden Arbeiten bereitgehalten werden. Die Datenabfrage nach unterschiedlichen Gesichtspunkten ist jederzeit möglich. Die Satzprogramme für die Druckvorlage des entstandenen Repertoriums sind während der Erfassungsarbeiten vorbereitet, der Satz bis in die Einzelheiten der endgültigen Gestalt im Druckbild nach und nach festgelegt worden.

Das Textkorpus des Feuilletons der 15 Weimarer Jahrgänge Frankfurter Zeitung ist in der Art einer analytischen Bibliographie aufgeschlossen worden. Neben den sich direkt aus der Vorlage ergebenden zeitungs- und textbezogenen diplomatisch wiedergegebenen sowie unmittelbar ablesbaren Daten (Jahrgang, Datum, Ausgabe, Plazierung, Umfang, Rubrik, Verfasser, Titel, redaktionelle Vorbemerkungen und Ergänzungen) und weiteren ausgabenbezogenen Daten wurden referierende Daten (Textgattung, Inhalt, Schlagwörter) erhoben. Dabei wurden für verschiedene Textgattungen und Präsentationsstrukturen Aufnahme-Schemata entwickelt, die in der Schlagwortvergabe für die Register ihren Niederschlag finden. Diese Annotierung und Kommentierung gibt dem durch mehrere differenzierte Register (Verfasserregister, Schlagwortregister für Personen, Sachen und Orte, Zeitungen/Zeitschriften und Verlage) erschlossenen Katalog einen hohen Informations- und Gebrauchswert.

Aus den Angaben zu Jahrgang, Ausgabe, Zeitungsteil und Abfolge der Beiträge in der Zeitung wird - abweichend von den üblichen laufenden Bibliographienummern - die sieben- bis elfstellige Identifikationsnummer automatisch erstellt und als Satznummer in der Abfolge der Einträge im TUSTEP-Katalog geführt. Diese Identifikationsnummer verweist von jedem Registereintrag aus zum Fundort in der Quellenprojektion des Repertoriums oder auch direkt in der Zeitung.

Besondere Überlegung verlangte die Konzeption in zwei Punkten: bei der Formulierung der referierenden Daten und bei der Entscheidung zwischen vollständiger oder selektiver Aufnahme.

Bei der Formulierung der referierenden Daten stellt sich die Wahl, die Sachverhalte für die Inhaltsangabe bzw. für das umfangreiche Schlagwortregister mit normierten, also durch das Vokabular eines Thesaurus vorgegeben Termini zu beschreiben oder beim Sprachgebrauch der Zeitung zu bleiben. Dies wurde im Sinne sach- und zeitnaher Erschließung, die die Interpretation nicht zu rasch auf Gegenwartsthemen einengt, für die größtmögliche Nähe zum Vokabular des Feuilletons selbst entschieden: z.B. "Völkische" oder "Hakenkreuzler" für Rechtsextreme neben den langsam sich durchsetzenden "Fascisten", schließlich "Faschisten". Es entsteht damit eine Art Enzyklopädie des kulturellen und sozialen Wandels der Weimarer Republik, wie die Feuilletonpublizistik ihn verzeichnet hat, ein Wörterbuch der Zeit.

Das Textkorpus des Feuilletons der Frankfurter Zeitung wurde in einem Kernbereich vollständig nach festgelegten Kriterien erschlossen, eingeschränkt durch unterschiedliche Erschließungstiefe im einzelnen und durch Sammelverweise für Kürzestrezensionen und Mitteilungen. Ein Randbereich, im wesentlichen einige der Beilagen, wurde restriktiv aufgenommen. Diese zweckmäßigen und vertretbaren Reduktionen des im Prinzip vollständig aufzunehmenden Materials ermöglichen es im Gegensatz zu den verschiedenen denkbaren Selektionsmodi, die unterschiedlichen wissenschaftlichen Ziele des Vorhabens angemessen zu verfolgen. So entsteht nach und nach eine Datenbank bzw. ein Repertorium, das wie ein Archiv auch für andere Fragestellungen, neue Methoden oder benachbarte Disziplinen Zugang verschafft zum öffentlich verhandelten empirischen Wissen und hermeneutischen Denken der Zeit. Darüber hinaus bietet die systematische Abbildung der Quelle Einblick in die Medienbezogenheit von Einzeltexten und erlaubt deren Rekontextualisierung, sie macht das personelle Beziehungsnetz der Zeitung zu Publizisten, Literaten und Politikern sichtbar und öffnet den medienwissenschaftlichen Untersuchungsweg für pressehistorische und strukturelle Forschungsfragen.

Ein Überblick über die Grundlagen-Probleme der Feuilletonforschung wie der Quellenerschließung verbunden mit einer vergleichenden Studie zur Rhetorik zweier Feuilleton-Jahrgänge der Frankfurter Zeitung (1919 und 1929) erscheint 1995 ("Das Feuilleton der Frankfurter Zeitung. Zur Grundlegung einer rhetorischen Medienforschung", Max Niemeyer Verlag, Tübingen ).
[erschienen 1996; ISBN: 3-484-68008-3   (Anmerkung der Redaktion)]


aus: Protokoll des 64. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 8. Juli 1995