Abbildung 1: Beziehungen zwischen biblischen und literarischen Texten
Die Bibel findet als bereits rezipierter Text Eingang in einen literarischen Text, insofern die Auseinandersetzung eines/einer Autors/Autorin mit Texten sowie deren Interpretation in ihre Literatur mit einfließt oder bewußt mithineingenommen wird. Die Auseinandersetzung der LeserInnen des literarischen Textes erfolgt sowohl mit diesem Text als auch mit den diesem vorausliegenden Prätexten. Wird dabei eine Beziehung zweier Texte festgestellt, so folgt als eigenständig kreativer Akt ein neues Verständnis eines oder beider Texte. Prinzipiell ist es daher möglich, jedes Werk mit jedem zu korrelieren. Meist jedoch werden intertextuelle Relationen dadurch gelenkt, daß ein Text selbst eine oder mehrere intertextuelle Relationen anzeigt. Intertextualität ist folglich keine textimmanente Komponente, trotzdem aber kann jedes Element eines Textes einen intertextuellen Leseprozeß auslösen.
Ausgangspunkt für die Überlegungen zur automatisierten Befunderhebung sind bekannte Formen der Bezüge zwischen Texten, wie z.B. Zitat, Paraphrase, Allusion. Allen Diskussionen um die Abgrenzung oder Klassifikation dieser Relationen ist die Annahme gemeinsam, daß der Bezug zum Prätext durch (mindestens) ein Textelement ausgelöst wird. (7)
Die eindeutigste Form dieser Beziehung ist das Zitat. Im strengen Sinn besteht ein Zitat aus der exakten Übernahme einer Wortfolge, d.h. einer identischen Zeichenkette. Neben dieser engen Definition müssen, um den literarischen Texten gerecht zu werden, auch variierte Wiederaufnahmen von Wortfolgen als Zitat betrachtet werden. (8) Nach Plett gehört es sogar zur Eigenart literarischer Texte, daß diese ihre Vorlage umgestalten. Addition, Subtraktion, Substitution, Permutation, Wiederholung von Textelementen wären als einige der möglichen Variationen zu nennen. (9) Diese Formen der Umstellung und Erweiterung des genauen Wortlautes eines Zitats gehen fließend in die freieren Beziehungen zwischen Texten, Paraphrase und Anspielung, über. Der Unterschied im Hinblick auf die Erkennbarkeit dieser Bezüge besteht darin, welche und wieviele Elemente im Text für die Markierung einer Beziehung zwischen Texten als konstitutiv erachtet werden.
Als erstes wird jede flektierte Wortform auch in ihrer grammatikalischen Grundform (Lemma) notiert. In diesem Arbeitsschritt werden ferner homographe Wortformen der jeweils inhaltlich entsprechenden Grundform zugeordnet sowie Funktionswörter zu einer Grundform zusammengefaßt. Eine weitere Vereinheitlichung erfolgt auf inhaltlicher Ebene, indem synonyme Wörter einer Bedeutungsform zugeordnet werden. (10) Poliseme und homonyme Wörter werden dabei differenziert, umgangssprachliche Ausdrücke durch Hochsprache ersetzt. Ebenso werden Substantiv-Komposita in ihre Bestandteile aufgelöst, um für die automatisierten Suchen einzeln berücksichtigt werden zu können.
Darüber hinaus ist es notwendig, die Wörter hinsichtlich ihrer Wichtigkeit für einen Bezug zwischen Texten zu differenzieren. Funktionswörter wirken sich auf die Wahrnehmung einer Relation anders aus als Eigennamen oder typisch biblische Begriffe, wie z.B. Hoherpriester, Speiseopfer, Laubhüttenfest etc.
Bevor die Texte miteinander verglichen werden, wird auf diese Weise jedes Wort mit zusätzlichen Informationen ausgestattet.
Ein Beispiel:
Flektierte Wortform | Lemma | inhaltl. Grundform | Klassifikation |
---|---|---|---|
der | der,die,das | der,die,das | f.w. |
spazierten | spazieren | gehen | norm. |
Weisungen | Weisung | Gebot | norm. |
Hoherpriesters | Hoherpriester | Priester | typ. |
Für die folgenden Suchen werden diese Daten in Form von Konkordanzen gespeichert. (11)
Die Textgrundlage: Diese Auswahl entscheidet darüber, welche Ebene der Aufbereitung durchsucht wird: die flektierten Wortformen, Lemmata oder inhaltliche Grundformen.
Die Klassifikation: Die Angabe, welche Klasse von Wörtern berücksichtigt werden soll, erlaubt es z.B., Funktionswörter in einem Suchlauf unberücksichtigt zu lassen oder ausschließlich nach jenen Übereinstimmungen zu suchen, die mindestens einen typisch biblischen Begriff enthalten.
Der Bereich der Suche: Der Suchbereich legt die Größe der verglichenen Texte fest. Aufgrund der unterschiedlichen Textgrößen von Bibeltext und Gedichttext ist es notwendig, diese für einen Vergleich in kleinere Bereiche zu unterteilen. Nur so kann ein Bezug zu einem konkreten Bibeltext hergestellt werden, (12) oder bei längeren Gedichten ein Abschnitt des Gedichts einem Bibeltext zugeordnet werden. Bei einer Einschränkung der Bereiche auf beispielsweise 50 Wörter aus dem Bibeltext und 40 Wörter des Gedichts werden übereinstimmende Wörter nur dann als Ergebnis gewertet, wenn diese innerhalb von 40 Wörtern im Gedicht und innerhalb von 50 Wörtern in einem biblischen Texten vorkommen.
Die minimale Übereinstimmung: Erstes Kriterium für die automatische Erkennung eines Bezugs ist die Anzahl der übereinstimmenden Wörter in Relation zu dem verglichenen Textabschnitt. Je mehr übereinstimmende Wörter in einem Textabschnitt vorkommen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, daß eine Beziehung zwischen den Texten vorliegt. Ein wörtliches Zitat z.B. weist eine Übereinstimmung von 100 % auf. Ein weiteres Kriterium ist die Übereinstimmung wiederholter Wörter. Wenn ein im Prätext häufig gebrauchtes Wort auch in einem Folgetext mehrfach aufgenommen wird, ist das ein verstärkter Hinweis auf eine Beziehung der beiden Texte. Diese Art der Übereinstimmung kann ähnlich den Klassifikationen als Einschränkungskriterium gewählt werden; ein Ergebnis kann beispielsweise nur dann ausgegeben werden, wenn mindestens ein Wort solch eine wiederholte Übereinstimmung aufweist.
Ein Lied zu singen | ||
zwischen Einnahme der Schlaftablette | ||
und ihrer Wirkung | ||
Und ob ich schon | ==> | und ob ich schon |
meine Hofrunde drehe | ||
im finstren Tal | ==> | im finstren Tal (Ps 23,4) |
im Gleichschritt | ||
mit geschorenen Schatten | ||
so rechne ich doch | ||
mit Dir | ||
bei Wasser und Brot- | ==> | bereitest mir einen Tisch (Ps 23,5) |
brechen | ||
Du bereitest meine Flucht vor | ==> | du bereitest ... |
im Angesicht meiner Feinde | ==> | im Angesicht meiner Feinde (Ps 23,5) |
immer vor Deinen | ||
Verheißungen her |
Am auffallendsten sind hier die freien Zitate aus Ps 23,4-5. Das erste Zitat stimmt mit Ausnahme des Verbs wörtlich mit dem Psalmvers überein. Anders beim zweiten Zitat, die Zeilen 4-6 der dritten Strophe bilden wieder den Teil eines Psalmverses, das Objekt des Satzes ist jedoch ausgetauscht und wird als Anspielung im Gedicht vorweggenommen: "Wasser und Brot" stehen in inhaltlicher Verbindung zu "Tisch bereiten".
Neben den Zitaten bietet dieses Gedicht weitere Anspielungen zu Psalmen, die von der Angst vor Feinden, Bedrohung und der Hoffnung auf Gott sprechen. Ausgelöst vor allem durch die Wörter "Schatten, Feind, Angesicht, gehen, dunkel" (z.B. Ps 42). Als typisch biblische Begriffe fallen noch auf: "Brotbrechen" und "Verheißungen" mit Verweisen vor allem auf Texte des Neuen Testaments.
Dich lieben können ohne | Mt 5,43 |
die zu hassen die dich | Du sollst Deinen Nächsten lieben |
besetzt hält wie | und Deine Feinde hassen |
Feindesland | ... liebt eure Feinde ... |
Dich lieben können ohne | Mt 15,27 |
dir zu fressen was dir vom | ... aber doch fressen die Hunde die Brosamen, |
Tisch fällt: Krümel aus | die vom Tisch ihrer Herren fallen ... |
der Hand | |
Dich lieben können ohne | |
mir zu sagen nach Jahr | Mt 26,69 |
und Tag: den hab ich nie | ... ich kenne den Menschen nicht |
gekannt. |
Die erste Strophe nimmt die Leitworte "Lieben, hassen, Feinde" aus Mt 15,27 auf, auch die zweite Strophe zeigt einen deutlichen Bezug, wenn man die inhaltlich vereinheitlichten Wortformen als Ausgangspunkt nimmt (Brosamen = Krümel). Die Anspielung der dritten Strophe ist von den Befunden her weitaus weniger deutlich, eine Berücksichtigung liegt im Ermessen der jeweiligen Interpretation.
Selig sind die Wartenden | ==> | ... Selig ist der Knecht (Mt, 24,46) |
Sie bedürfen der Stunden nicht | ||
nicht der Tage | ||
nicht des Wachens des Schlafens. | ||
Sie spannen sich in ihrer Haut | ||
bis die Poren platzen | ||
jedes Lächeln sich selbst zerdehnt. |
Dieser Bezug zu Mt 24, 32ff//Mk 13,32ff wird in der zweiten Strophe für eine automatisierte Befunderhebung durch die Wörter "selig, warten, Stunde, Tag, schlafen" deutlich.
2. Vgl. Stiegler, Bernd: Intertextualität. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hg: Kimmich, Dorothee; Renner, Rolf Günter; Stiegler, Bernd. Stuttgart 1996, 327-332. zurück
3. Vgl. Stierle, Karl-Heinz: Werk und Intertextualität. In: Schmidt, Wolf; Stempel, Wolf-Dieter (Hg): Dialog der Texte (Wiener slawistischer Almanach. Sonderband 11). Wien 1993, 7-26. zurück
4. Vgl. Broich, Ulrich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Broich, Ulrich; Pfister, Manfred (Hg): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35). Tübingen 1985, 31-47. zurück
5. Vgl. bereits Raben, Joseph; Liebermann, David: Principles and a Program. In: The computer in literary and linguistic studies (Proceedings of the Third International Symposium). Cardiff 1976, 297-308. zurück
6. Die folgende Untersuchung beschränkt sich auf die Formen der Einzeltextreferenzen. zurück
7. Vgl. Ben-Porat, Ziva: The poetics of literary allusion. In: Poetics and Theory of Literature (PTL). Journal for the Descriptive Poetics and Theory of Literature 1 (1976) 105-128. zurück
8. Vgl. Meyer, Hermann: Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans. Stuttgart 1961, 15. zurück
9. Vgl. Plett, Heinrich: Intertextualies. In: Petöfi, Jénosch (Hg): Intertextuality Research in Text Theory (Untersuchungen zur Texttheorie 15). Berlin, New York 1994, 3-29, hier 20f. zurück
10. Vorrang hat dabei der Bibeltext als Prätext; d.h. diese Texte werden zuerst bearbeitet. Daraus folgt, daß bei der Datenbearbeitung nicht alle Möglichkeiten der deutschen Sprache berücksichtigt werden, sondern nur jene, die im Bibeltext relevant sind. zurück
11. Es werden für jeden Text drei Konkordanzen angelegt; basierend auf der flektierten, der lemmatisierten und der inhaltlichen Grundform der Wörter. zurück
12. Ein Ergebnis, das besagt, daß 12 Wörter des Gedichtes mit Wörtern aus der Bibel übereinstimmen, ist kaum verwertbar; hingegen 12 übereinstimmende Wörter eines Gedichts mit dem Text Gen 24, 1-9 weisen bereits deutlicher auf einen Bezug hin. zurück
aus: Protokoll des 69. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 8. Februar 1997