b) Der Neue Pauly ist kein Forschungsunternehmen, sondern ein Arbeitsmittel für alle Gebiete der Antike und Antikerezeption. Die Benutzer sind Lehrer, Altertumswissenschaftler, Theologen, Journalisten, Literaturwissenschaftler, Philosophen. Gegenüber dem bewährten "Kleinen Pauly" (herausgegeben von K. Ziegler, W. Sontheimer, H. Gärtner in 5 Bänden, 1964-75) seien - außer der Verdoppelung des Umfangs - folgende Unterschiede hervorgehoben:
c) Der neue Pauly bleibt ein Reallexikon. Die Stichwörter bleiben überwiegend kleinteilig,
eher objektsprachlich, personen- und textnah. Die Kurzlemmata werden nicht von
unübersichtlichen Dachartikeln verschluckt: einfacher Zugang zu den Grundinformationen,
den Namen, Orten, Zahlen, Sachen.
Das Zentrum bleibt das 'klassische Altertum', die hellenische und römische Kultur in der
Bronze- und Eisenzeit in allen ihren Ausprägungen. Aber das Feld, in dem dieses Zentrum
lagert - "La Méditerrannée" -, die orientalischen Voraussetzungen beider Kulturen, ihre
Substrate und ihre Wirkung auf Kelten, Germanen, Slawen, Araber, auf Judentum und
Christentum müssen detailliert bestimmt und neu gewichtet werden.
d) Dieser Aufgabenstellung entsprechend sind die Anzahl der Lemmata im altertumswissenschaftlichen Teil relativ groß, die Artikel relativ kurz. Die Anzahl der Mitarbeiter ist, infolge des enormen Spezialisierungsdrucks, in allen Disziplinen sehr hoch. Es gibt zahlreiche von mehreren Autoren verfaßte 'Komposit-Artikel', da sich für übergreifende Themen oder 'Dachartikel' kaum noch 'Generalisten' finden lassen. Die Einheitlichkeit der Konzeption eines Artikels - um von dem Werk im ganzen zu schweigen - ist hierdurch gefährdet.
Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft.
(Gesamtregister in zwei Teilen) - Band 1: Alphabetischer Teil.
Hrsg.v. Tobias Erler, Christa
Frateantonio, Matthias Kopp, Dorothea Sigel,
Dorothea Steiner.
Stuttgart/Weimar: Verlag J.B. Metzler, Mai 1997;
1158 Seiten, zweispaltig,
mit CD-Rom.
Die Fülle dieser Arbeiten ist beachtlich: Ist das ein lokales Phänomen? Oder ein allgemeines Symptom jetziger Wissenschaft? Was für eine Sicht auf Kultur wird durch diese Lexika erzeugt?
Damals stand bereits fest, daß die Arbeit dezentral organisiert werden würde: Die Autorenkommunikation und die fachwissenschaftliche Redaktion der Artikel sollte durch die Fachgebietsherausgeber erfolgen, die zu diesem Zeitpunkt bestimmt waren und nach Verteilung des im geplanten Lexikon verfügbaren Raumes gemeinsam die Gesamtlemmaliste erarbeiteten.
In einer Zentrale sollte das Material der insgesamt neunzehn Fachgebietsredaktionen zusammengefaßt werden, die - neben einigen Standorten an Universitäten in Westeuropa und in den USA - sämtlich an deutschen Universitäten verankert waren. Diese Zentrale sollte in Tübingen, am Philologischen Seminar eingerichtet werden, sollte unter Ausnutzung der örtlichen Facilitäten (Bibliotheken, Zentrum für Datenverarbeitung) wissenschaftliche und organisatorische Betreuung anbieten, Koordinationsleistungen erbringen. Dies betraf zunächst die Unterstützung der Fachgebietsherausgeber bei der bereits erwähnten Erarbeitung der Gesamtlemmaliste, dann die Abwicklung der Verträge mit den Autoren, die Entwicklung von Vorgaben für die Manuskriptgestaltung und schließlich die Organisation, Verwaltung und Kontrolle des resultierenden Manuskriptbestandes. Im Interesse sowohl der zeitlichen Überschaubarkeit wie der inhaltlichen Kohärenz und Vernetzbarkeit wurden die Artikel jeweils in großen Gruppen an einzelne Autoren, jeweils Fachleute auf dem entsprechenden Sektor, vergeben. Die Autoren konnten und können deshalb vom Anfangsbuchstaben "A" bis zum Anfangsbuchstaben "Z" zwischen sämtlichen Artikeln eines Themenkreises Bezüge herstellen. Darüber hinaus war und ist es idealiter für alle Mitarbeiter, Autoren wie Herausgeber, jederzeit möglich, sich über andere, nicht nur alphabetisch frühere Lemmata und deren Autor zu informieren, ggf. Absprachen zu treffen.
Außerdem stand fest, daß der Neue Pauly, anders als seine Vorgänger, mit Hilfe von Werkzeugen der elektronischen Datenverarbeitung organisiert und produziert werden sollte: Wenn ein Projekt dieser Größe in nützlicher Frist, mit geringem Personalaufwand durchgeführt werden soll, ist dies schon vor dem eigentlichen Satz erforderlich.
Im Laufe der Diskussion wurde schnell deutlich, daß die Daten auf jeden Fall anwendungsneutral gehalten werden sollten. Zu diesem Zeitpunkt fiel das Akronym "SGML" immer häufiger, war in einschlägigen Kreisen der Trend aufgekommen, Daten wenn möglich nicht nur in Hinblick auf ein konkretes, absehbares Ausgabemedium hin zu strukturieren und vorzubereiten, sondern sich qua anwendungsneutraler Datenhaltung auch andere Optionen, die Verwertung in anderen Medien offenzuhalten. Neben der gedruckten Ausgabe sollte für den Neuen Pauly künftig eine Publikation in anderen Ausgabemedien aus technischer Sicht mit geringem Aufwand möglich sein.
In der Tübinger Zentralredaktion mußte die Erfüllung der folgenden Aufgaben durch ein geeignetes EDV-Instrumentarium ermöglicht werden:
a) Organisation
Diese Angaben konnten nicht zu differenziert sein, da sie zum einen für
Artikel unterschiedlichen Typs geeignet sein mußten - der Neue Pauly
enthält neben knappen Personen- und Sachartikeln umfangreichere Artikel,
die größere Phänomene beschreiben und schließlich die sogenannten
Dachartikel, die, das lexikalische Prinzip der objektnahen
Detailinformation durckreuzend, zusammenhängende Darstellungen unternehmen,
dabei wiederum die in den kürzeren Artikeln gegebene Information
voraussetzen. Zum anderen waren diese technischen Vorgaben für über 700
Autoren bestimmt, die hinsichtlich der Verwendung von
Textverarbeitungssystemen und hinsichtlich der Produktion strukturierter
Texte im elektronischen Medium unterschiedliche Voraussetzungen hatten.
Um die automatische Weiterverarbeitung der Artikel sicherzustellen, wurden
folgende Anforderungen an die Manuskripte bzw. die in Tübingen
eingehenden Daten gestellt:
Nachdem nun mit Manuskripten bis zum dritten von fünfzehn Bänden Erfahrungen vorliegen, kann eine außerordentlich positive Bilanz gezogen werden: Die von den Fachgebietsredaktionen bearbeiteten Manuskripte bzw. Daten genügen zu mehr als 90 % den Anforderungen.
Nach der Konvertierung der Daten aus dem Eingangsformat wird das Vorhandensein der erforderlichen Qualifier bzw. Feldseparatoren angeprüft, fehlende Kennzeichen werden ggf. manuell ergänzt. Nach der Extraktion der Autorendaten werden die oben erwähnten, zulässigen typographischen Kennungen in explizite Kennungen umgewandelt, alle übrigen typographischen Merkmale wie Mehrfachblanks, Tabulatoren, Einzüge usw. werden eliminiert. Nach der Ergänzung von Verwaltungsinformationen (eindeutige Nummer, Eingangsdatum, Sollumfang) werden die neueingegangenen Daten in den zentralen Datenbestand integriert und können nun redigiert werden.
Die Redaktionsarbeit in Tübingen betrifft in erster Linie die formale Auszeichnung. Die logischen Komponenten eines Artikels werden differenzierter gekennzeichnet, als dies durch Autor und Fachgebietsredaktion möglich war. Neben anderen Elementen werden etwa Gliederungen, Originalzitate, Quellenreferenzen, Verweisziele, laufende Nummern homonymer Lemmata, antike Werktitel, Ankerpunkte für Abbildungen durch paarige Auszeichnungen markiert, die Verweisziele werden zudem noch durch Angabe einer numerischen Adresse eindeutig gekennzeichnet. Diese Markierungen werden zum einen für die Druckausgabe teils unterdrückt, teils in geeignete typographische Attribute umgesetzt. Zum anderen eröffnet diese Kennzeichnung weitere Möglichkeiten zum Umgang mit den in den Artikeln enthaltenen Informationen: Die differenzierte Kennzeichnung der Gliederungen ermöglicht eine automatische Konsistenzkontrolle, Gleiches gilt für die Verweisziele und die laufenden Nummern; an die Ankerpunkte für Abbildungen werden im Laufe der Produktion Graphikdateien angeschlossen, weitere Kontrollmöglichkeiten, etwa bei den Quellenrefernzen, sind evident.
Die eigentliche Redaktion, d.h. die Bearbeitung eines Artikels aus dem zentralen Datenbestand, erfolgt in einer Redaktionsumgebung, die aus einem für die Zwecke des Neuen Pauly entwickelten System von Makros besteht. Für die redaktionelle Arbeit sind neben fachwissenschaftlichen Kenntnissen folgende Kompetenzen erforderlich:
Im einzelnen stehen folgende Leistungen zur Verfügung: Nach Abfrage der Zugriffsberechtigung werden zunächst benutzerspezifische Profile eingestellt; damit wird unterschiedlichen Arbeitsgewohnheiten, Vorlieben für die Verwendung von Maus oder Tastenkombinationen Rechnung getragen. Anschließend wird ein zu bearbeitender Artikel ausgewählt und, nach erfolgreicher Abprüfung der Verfügbarkeit, exclusiv zur Verfügung gestellt. Im Editor, der nun aufgerufen wird, stehen zum einen Buttons bzw. Tastenkombination für die Auszeichnung einzelner Elemente zur Verfügung. Zum anderen kann von hier aus auf andere Daten (Liste aller Lemmata, Liste zulässiger Abkürzungen usw.) zugegriffen werden. Nach Abschluß eines redaktionellen Zugriffes werden die Daten zurückgeschrieben und freigegeben. Protokolle, Sicherheitskopien und rollback-Mechanismen garantieren die Transparenz und die Reproduzierbarkeit sämtlicher Zugriffe auf die Daten.
Schon vor der Produktion eines gedruckten Bandes ist es möglich, den je
aktuellen Zustand der redigierten Daten zu dokumentieren. Eine
entsprechende Routine transformiert Daten des Tübinger Bestandes in das
HTML-Format, in dem sie den Fachgebietsherausgebern zur Ansicht
bzw. für Ausdrucke zugänglich gemacht werden können.
Für die Kontrolle der Konsistenz, der Numerierung und der Verweise stehen
weitere Routinen zur Verfügung, ebenso für Selektion und Sortierung der
Artikel nach unterschiedlichen Kriterien, für die Ermittlung des aktuellen
Status, für die Terminkontrolle und die Honorierung.
Welche Perspektiven eröffnen die anwendungsneutrale Datenhaltung und das electronic publishing für ein Projekt wie den Neuen Pauly?
Die Atomisierung der Information, die in der lexikalischen Darstellung unvermeidbare Auflösung der Kontexte wurde schon früher als Gefahr wahrgenommen, der etwa durch "enzyklopädische Stichworte" begegnet werden sollte. Der Enthusiasmus, der angesichts der Aussicht auf virtuelle Enzyklopädien, auf "vielfältig durchwanderbare Informationsräume" zunächst ausgebrochen war, ist folgerichtig der Ernüchterung und der Einsicht gewichen, daß die unkontrollierte Vermehrung von nun auch elektronisch zugänglichen Informationseinheiten deren Gebrauchswert nicht erhöht. Angesichts der Vielfalt und der Zufälligkeit von Treffern nach einer Suchanfrage wird deutlich, daß die explosiv zunehmende Zahl verfügbarer Informationen nur dann bewältigt werden kann, wenn diese durch Kontexte und durch konsistente Vernetzungen ergänzt und qualifiziert werden. Die erforderliche intellektuelle Leistung wird häufig unterschätzt.
Für den Neuen Pauly lassen sich vor diesem Hintergrund ein Nah- und ein Fernziel formulieren:
Kurzfristig muß die Einbindung weiterer Texte sowie anderer Datentypen
geplant werden: Die bereits erfolgte Kennzeichnung der Quellenreferenzen
ist ein erster Schritt; sie ermöglicht, im elektronischen Medium, die
direkte Verknüpfung der Lexikonartikel mit Editionen. Wörterbücher,
Handbücher, Bibliographien, abstracts sind weitere Textdaten,
die eingebunden werden können.
Graphiken, Karten und dreidimensionale Pläne, Abbildungen von Artefakten,
Animationen, die etwa geographische Entwicklungen oder archäologische
Fundzusammenhänge veranschaulichen, sind neben Audiodaten (z.B. griechische
Tragödien) Beispiele für andere Datentypen, mit denen
weitere Informationen verfügbar gemacht werden können.
Langfristig muß die resultierende Datensammlung in Auseinandersetzung mit aktuellen Fragestellungen und mit Hilfe von Ordnungskriterien erschlossen werden, die über das Alphabet oder assoziative Verbindungen hinausgehen. "Guided tours" und andere Mittel, mit denen bewußt wieder eine Sequenz hergestellt und eine mögliche Sicht angeboten wird, können dazu eingesetzt werden.
aus: Protokoll des 69. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 8. Februar 1997