Aus dem Protokoll des 73. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 11. Juli 1998

Birgit Wägenbaur (Marbach)
Das "Internationale Germanistenlexikon 1800-1950"

Seit dem 1. März 1995 entsteht an der Marbacher "Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik" ein internationales historisches Germanistenlexikon. Die erste Arbeitsphase des Projekts, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird und insgesamt fünf Jahre dauern soll, wurde im letzten Jahr abgeschlossen. Sie diente in erster Linie der Sammlung eines umfangreichen Namenfundus. Momentan befindet sich das Projekt in der zweiten Arbeitsphase, die der Bearbeitersuche und der Ausarbeitung der einzelnen Artikel gewidmet ist.

Die Ziele des Lexikon-Projekts können stichpunktartig folgendermaßen umrissen werden: Erstmals wird hier ein großer Fundus an bio-bibliographischen Daten erschlossen. Zahlreiche Register (u.a. nach Universitäten - es wird kein Länderregister geben, da die Ländergrenzen sich historisch verändert haben -, Fachgebieten, Lehrer-Schüler-Verhältnissen, Orten der Nachlaßbewahrung und Körperschaften) geben Aufschluß über systematische Zusammenhänge innerhalb der Disziplin. Das Lexikon soll nicht nur den aktuellen Stand der Wissenschaftsgeschichte der Germanistik dokumentieren, sondern durch seine internationale Anlage auch Gleichzeitigkeiten und Ungleichzeitigkeiten zwischen Nationalphilologie und der sog. 'Auslandsgermanistik' festhalten. Eine erweiterte CD-ROM Fassung des Lexikons, die mehr als die doppelte Datenmenge der Buch-Publikation enthalten wird, soll die Abfragemöglichkeiten der Register in beliebigen Kombinationen elektronisch anbieten. Die durch die Erarbeitung des Lexikons entstandene Datenbank soll nach Abschluß des Projekts von der Marbacher "Arbeitsstelle" weiter betreut, ergänzt und vervollständigt werden. Sie wird Benutzern und Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs für Recherchen offen stehen. Als Nebenprodukt des Lexikons entsteht eine umfangreiche fachhistorische Bibliographie, die einen Überblick über die wissenschaftsgeschichtliche Forschung der letzten 150 Jahre gibt.

In das Lexikon, das rund 1200 bis 1400 bio-bibliographische Artikel umfassen wird, sollen weltweit alle bedeutenden Germanisten aufgenommen werden, die vor 1950 ihre erste selbständige Publikation veröffentlichten oder vor 1950 promovierten. Die Artikel werden nicht ausformuliert sein, sondern in der Form von Datensätzen Informationen über die Herkunft, die akademische Laufbahn, über Mitgliedschaften, Ehrungen sowie Lehr- und Forschungsschwerpunkte, die wichtigsten Publikationen von und über den jeweiligen Gelehrten sowie über die Nachlaßstandorte enthalten. In der Differenziertheit der Artikel besteht das große Verdienst des Lexikons - es stellt Daten bereit, die sonst nirgends zu finden sind. Alle Angaben sind überprüft und zuverlässig, d.h. die Mitarbeiter des Lexikons werden angehalten, auch ungedruckte Quellen - sprich Personalakten in Universitäten und Nachlässe - heranzuziehen. Das Germanistenlexikon bietet auf diese Weise fast für jedes wissenschaftsgeschichtliche Interesse einen relevanten Aspekt und wird insofern ein grundlegendes Arbeitsinstrument für die weitere wissenschaftshistorische Forschung sein.

Die elektronische Erfassung der strukturierten Daten geschieht mithilfe von TUSTEP, auf dessen Basis eine Eingabemaske entwickelt wurde. Obwohl Textverarbeitungsprogramm, wurde TUSTEP für unsere Zwecke die Struktur einer Datenbank verliehen. Diese Datenbank liegt dem späteren Lexikon zugrunde, aus ihr soll direkt der Satz entwickelt werden. Die Wahl fiel auf TUSTEP zum einen aus diesem Grund - eben weil sich aus der Datenbank unmittelbar der spätere Satz erstellen läßt - zum anderen aber vor allem deshalb, weil in TUSTEP alle Sonderzeichen dargestellt werden können. Für die osteuropäischen Artikel etwa ist dies von größter Wichtigkeit.

Zurück zur inhaltlichen Seite des Lexikons. Zunächst zum Auswahlverfahren: Das Aufnahmekriterium ins Lexikon bildet die "Wissenschaftswirksamkeit" eines Germanisten, wobei sich der Begriff "Germanist" nicht nur auf den akademischen Bereich beschränkt. Insbesondere für den nicht-deutschsprachigen Raum werden auch Übersetzer, Editoren, Professoren aus angrenzenden Fachgebieten und überhaupt Vermittler der deutschen Sprache, Literatur und Kultur berücksichtigt, die im jeweiligen Land für die Herausbildung einer Germanistik im engeren Sinne bedeutsam wurden.

Als Grundlage der Namenauswahl wurden bei der gesamten deutschsprachigen Germanistik folgende vier Datenreihen miteinander korreliert: Publikationen in Fachzeitschriften, universitärer Status (Vorlesungsverzeichnisse), "Selbstreflexionstexte" (z.B. Nekrologe) und der neuere wissenschaftsgeschichtliche Forschungsstand. Die Erfassung der einzelnen Datenreihen - insbesondere der Fachzeitschriften und Vorlesungsverzeichnisse - diente dazu, den bereits erwähnten Namenvorrat anzulegen.

Die Zeitschriftenauswertung ging folgendermaßen vor sich: Die Beiträger der zehn wichtigsten, deutschsprachigen Fachzeitschriften wurden jeweils vom Erscheinungsbeginn der Zeitschrift bis zu dessen Ende bzw. bis 1970 erfaßt.

Folgende Zeitschriften wurden herangezogen: Germania I und II, Zeitschrift für deutsches Altertum, Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, Zeitschrift für deutsche Philologie, Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Zeitschrift für den deutschen Unterricht, Euphorion, Germanisch-Romanische Monatsschrift und Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Zusätzlich wurden zwei Rezensionsorgane berücksichtigt: der Anzeiger für deutsches Altertum und deutsche Literatur, der seit 1876 die Beilage der Zeitschrift für deutsches Altertum bildet, und das Literaturblatt für deutsche und romanische Philologie, das wichtige Personalnachrichten enthält.

Es wurden die Namen der Autoren, die Kurztitel ihrer Aufsätze bzw. die Zahl ihrer Rezensionen sowie der Veröffentlichungszeitraum festgehalten. Alle in den Zeitschriften erschienenen Nekrologe wurden kopiert und die darin enthaltenen Angaben über Leben und Werk eines Germanisten aufgenommen.

Ein Großteil der Vorlesungsverzeichnisse der deutschsprachigen Universitäten von 1800 bis 1950 wurde auf germanistische Veranstaltungen hin durchgesehen und dabei die Namen der Dozenten und Professoren sowie ihre wechselnden Wirkungsstätten verzeichnet. Nach Abschluß des Lexikons wird es in Marbach ein komplettes Archiv aller an deutschsprachigen Universitäten abgehaltenen germanistischen Veranstaltungen von 1800 bis 1950 geben.

Durch die Auswertung der Fachzeitschriften und der Vorlesungsverzeichnisse sowie von ca. 20 kleineren Nachschlagewerken mit Berufsregistern und durch die Miteinbeziehung von Namenlisten anderer Projekte kam ein Fundus von rund 8000 Namen deutschsprachiger Germanisten zusammen. Teilweise liegt für die einzelnen Namen bereits ein Grundgerüst aller wichtigen Lebens- und Laufbahndaten sowie bibliographischer Angaben vor, die nur mehr überprüft und vervollständigt werden müssen. Die Entscheidung darüber, welche dieser Gelehrten in das Lexikon aufgenommen werden sollen, wurde im Frühjahr des Jahres 1998 getroffen. Ein erster Auswahlschritt basierte auf der Korrelation der genannten vier Datenreihen. Von vornherein fielen z.B. alle diejenigen Namen weg, bei denen als einziges Datum nur der Hinweis auf eine gelegentliche oder einmalige Publikation in einer Fachzeitschrift vorlag. Wer dagegen in mehreren Zeitschriften über einen längeren Zeitraum hinweg veröffentlichte, einen oder mehrere Nekrologe erhielt und an einer Universität lehrte, kam grundsätzlich für eine Aufnahme in Frage. Selbstverständlich sind auch andere Kombinationen denkbar. Der Professorenstatus, auch wenn er stark ins Gewicht fällt, ist keine notwendige Bedingung für die Aufnahme ins Lexikon. Da das Verfahren der Datenkorrelation dazu führen kann, gerade Außenseiter der Institution zu vernachlässigen, wie z.B. Frauen oder Gelehrte jüdischer Herkunft, die lange Zeit keinerlei Möglichkeit hatten, am Wissenschaftsbetrieb zu partizipieren, wurde für solche Personengruppen ein eigenes Auswahlverfahren angestrengt: Listen mit deren Namen wurden an ausgewiesene Berater geschickt mit der Bitte, Voten für oder gegen eine Aufnahme ins Lexikon abzugeben. Diese 'Quotierungen' sollten der Gefahr entgegenwirken, in der das Lexikon mit dem Auswahlkriterium "Wissenschaftswirksamkeit" steht: nämlich derjenigen, die historischen Ausschlußmechanismen nachzuzeichnen und diese zu wiederholen.

Nach Abschluß der Namenauswahl stellt sich die Zusammensetzung des Lexikons nun folgendermaßen dar: ca. 750 Namen für den deutschsprachigen Raum, ca. 200 bis 250 für die USA und noch einmal 200 bis 300 für die restliche Auslandsgermanistik. Für möglichst viele Beiträge werden Bearbeiter gesucht. Interessenten mögen sich bitte bei mir melden.

Neben der Germanistik in den deutschsprachigen Ländern bildet die Auslandsgermanistik das zweite Standbein des Lexikons. Bisher wurden in rund 40 Ländern Mitarbeiter gefunden. In Ländern mit einer größeren Germanistik (ab ca. 10 Artikel) wurden meist "Koordinatoren" gewonnen, die in Absprache mit der Marbacher Redaktion die Auswahl der Namen treffen, für die einzelnen Artikel Bearbeiter suchen und als Ansprechpartner im jeweiligen Land fungieren. Der Arbeitsstand variiert momentan von Land zu Land: Aus einigen Ländern sind die Artikel bereits eingetroffen, befinden sich in der Korrekturphase oder sind schon abgeschlossen (Brasilien, China, England, Frankreich, Ex-Jugoslawien, Kanada, Neuseeland, Norwegen, Polen, Rumänien, Schweden, die Slowakei und Ungarn), bei anderen Ländern steht die Auswahl der Namen fest (Argentinien, Dänemark, Italien, Mexiko, Portugal, Rußland, Tschechien, Türkei) oder wird demnächst getroffen sein (Australien, Belgien, Bulgarien, Estland, Finnland, Indien, Japan, Niederlande). Als problematisch erweist sich die Bestimmung der Zahlenrelationen zwischen den "Germanistiken" der einzelnen Länder, die in etwa die historischen Verhältnisse widerspiegeln sollen. In vielen Fällen ist die Fachgeschichte noch kaum erforscht. Überblicksdarstellungen oder gar Vergleiche zwischen den einzelnen Ländern gibt es nicht. Bisher wurden, ausgehend von der Anzahl germanistischer Lehrstühle im Jahr 1938, Hochrechnungen vorgenommen, doch auch diese können - wie sich zunehmend herausstellt - nur vorläufig sein. Möglicherweise wird daher im Frühjahr 2000 in Marbach eine Tagung abgehalten werden, bei der u.a. gemeinsam mit den ausländischen Mitarbeitern solche Fragen diskutiert werden sollen.

Die Erarbeitung des amerikanischen Teils des Lexikons wurde erst Anfang Juni 1997 in Angriff genommen. In diesem vergangenen Jahr wurde ein Namenfundus von rund 2500 amerikanischen Germanisten gesammelt (durch die Auswertung von in verschiedenen Zeitschriften abgedruckten Nekrologen, Personalnachrichten und Vorlesungsverzeichnissen). Inzwischen haben sich auch in den verschiedensten Bundesstaaten der USA zahlreiche Berater und Mitarbeiter für das Lexikon gefunden. Eine Namenvorauswahl von rund 360 Gelehrten wurde auf Basis der bisher gesammelten Daten und mithilfe der Voten verschiedener Mitarbeiter getroffen. Alle amerikanischen Artikel sollen nach Möglichkeit an Bearbeiter vor Ort vergeben werden, da die Quellenrecherchen von hier aus nicht möglich sind.

Bis Mitte des Jahres 1999 sollten an sich alle Artikel fertiggestellt sein. Bis dahin müssen für jeden Germanisten Auswahlbibliographien seiner wichtigsten Werke nach Autopsie vorgenommen werden. Auch gedruckte Widmungen werden erfaßt. Die Endredaktion wiederum soll bis zum Jahr 2000 abgeschlossen sein. Erscheinen wird das Lexikon in zwei Bänden beim Verlag Walter de Gruyter in Berlin.


aus: Protokoll des 73. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften vom 11. Juli 1998