Aus dem Protokoll des 83. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 17. November 2001

 

Horst Beinlich (Würzburg)

Bild und Text als Informationsquellen:
Erfassung und Analyse altägyptischer Daten

Altägyptische Tempel sind über und über mit Inschriften und Darstellungen bedeckt, die sich auf die Kulte im Inneren des Tempels beziehen und deshalb eine unschätzbare Quelle für die religiösen Vorstellungen in Ägypten bedeuten. Die Hauptmenge dieser Ritualszenen stammt von den gut erhaltenen Tempeln aus der Zeit der griechisch-römischen Herrschaft in Ägypten (etwa 330 v. Chr. bis 250 n. Chr.). Unter Ritualszenen versteht man großflächige Darstellungen, die den ägyptischen König bei Opferhandlungen oder Ritualen vor ägyptischen Göttern zeigen. Das Schema des Opfers ist dabei etwa so, dass der König - evtl. begleitet oder vertreten durch die Königin oder Götter - als der einzig zum Kultvollzug Berechtigte den vor ihm stehenden oder sitzenden Göttern z.B. Wein, Schmuck oder Schlachtopfer darbringt. Als Gegengabe gewähren ihm die Götter Wohltaten, die dem ganzen Land zugute kommen z.B. Zufriedenheit in der Bevölkerung, ausreichende Nilüberschwemmung u.a.m. Bei diesem Austausch von Gabe und höherwertiger Gegengabe wird ein kompliziertes System von bildlichen und textlichen Assoziationen benutzt, um die Legitimität der Adressaten und der Adressanten von Opfern zu gewährleisten und die Handlung im mythologischen Kontext zu verankern.

Wenn man davon ausgeht, dass allein die Übersetzung einer Ritualszene mindestens eine halbe Schreibmaschinenseite ausmacht, kann man sich vorstellen, dass bei einer Erfassung der ca. 10.000 Ritualszenen nur der griechisch-römischen Zeit die EDV als Hilfsmittel unabdingbar ist. Zu diesem Zweck wurde am ägyptologischen Institut der Universität Würzburg das Programm SERaT entwickelt, das System zur Erfassung von Ritualszenen in altägyptischen Tempeln. Es besteht aus einer auf TUSTEP basierenden Datenbank mit allen erforderlichen Informationen sowie einer Reihe von Zusatzprogrammen zur Weiterverarbeitung und Auswertung der Datenbank-Daten.

In der Datenbank sind nach einem festgelegten Schema alle Ritualszenen der Tempel der griechisch-römischen Zeit erfasst, zur Zeit etwa 10.000 Szenen aus ca. 130 selbständigen Tempeln. In diesem Schema wird festgehalten, wo die Szene ist, in welchem Zusammenhang sie steht, welche Personen (Götter, König) darin vorkommen, was in der Szene passiert, wie sie datiert ist und schließlich noch Angaben über Publikationen usw.

Jede der genannten Fragen ist dabei weiter aufgesplittet. So wird etwa bei der Frage, wo die Szene ist, genau angegeben, in welchem Tempel, in welcher Tempelhälfte (Himmelsrichtung), welchem Raum und welcher Wand, welcher Wandhöhe (Register), eine Szene zu finden ist. Dazu kommen Informationen über die darstellungstragenden Architekturelemente z.B. Säule, Türpfosten usw. Außerdem werden Angaben über die benachbarten und gegenüberliegenden Szenen gemacht.

Die Kulthandlung in einer Ritualszene wird mit der Übersetzung und Transliteration des Szenentitels erfasst, wobei dieser Text nach einem feststehenden Schema analysiert wird. Das gleiche gilt für die Erfassung der Gegengaben der Götter. Alle Personen, die in den Szenen dargestellt sind, werden mit ihrem Namen und ihren ausschmückenden Beinamen aufgenommen. Dabei wird z.B. bei Gruppen von mehreren Göttern die Position der einzelnen Personen festgehalten (1., 2., 3. usw. bis 30. Position). Zur Zeit sind etwa 30.000 Personen in der Datenbank zu finden. Die Erfassung und Übersetzung der Beinamen dieser Personen erfolgt in der "Epitheta-Datenbank", die wie andere Teilbereiche von SERaT aus organisatorischen Gründen ausgelagert sind und nur in gewissen Zeitabständen zu einer Gesamtdatei zusammengefasst werden.

Mit der Bestimmung der Herrschernamen werden die Szenen genau datiert, fehlen diese Angaben, gibt es ein System relativer Datierung.

All diese genannten Angaben werden auf der Basis von TUSTEP aufgenommen und verwaltet. Die dabei erstellten Text-Files sind mit Feldnummern datenbankmäßig gegliedert. Es ist also sowohl eine Datenbank-Abfrage möglich wie auch eine Volltextsuche.

Neben der Möglichkeit, die Fragen und Auswertung auf TUSTEP-Basis zu erhalten, gibt es weitere, bei denen die Daten an andere Programme übergeben und dann da weiterverarbeitet werden. Es sind dies vor allem die mit JAVA erstellten Programme "Szenario", "Retriever" und "Szenenanalyse".

"Szenario" ist ein in Würzburg entwickeltes hierarchisches System von Landkarten und Tempelplänen. Bei Treffern in der Datenbankabfrage kann sich der Benutzer von einer Ägypten-Karte bis zur "Fundstelle" an einer Tempelwand führen lassen und dort die Darstellung und das Datenblatt aufrufen. Eine Benutzung des Systems ist selbstverständlich auch ohne vorherige Arbeit mit der Datenbank möglich. Man kann sich dann an jedem Punkt des Kartensystems die zugehörigen Darstellungen und Informationen für die Tempel und Tempelwände ausgeben lassen. Mit Hilfe des Programmes "Szenario" können Strukturen bei der Verteilung von Ritualszenen oder deren Inhalten auf der Basis der Karten erkannt werden.

"Retriever" ist ein gleichfalls in Würzburg entwickeltes System, mit dem die Darstellungen, die zu den Datensätzen einer Datenbank-Abfrage gehören, als Serie gezeigt werden können. Auf diese Weise sind ikonographische Details innerhalb der Ritualszenen leicht erkennbar und können für die Erfassung in der Datenbank aufgearbeitet werden.

Mit "Szenenanalyse" können Angaben zur Häufigkeit, die von der Datenbank erstellt werden, mit Hilfe von Balken- bzw. Tortendiagrammen dargestellt werden. Damit sollen Erkennen und Unterscheiden von Regel- und Ausnahmefällen bei philologischen und ikonographischen Untersuchungen erleichtert werden.

"Szenario", "Retriever" und "Szenenanalyse" sind Werkzeuge, mit denen neue Erkenntnisse gewonnen werden können, indem sie - auf jeweils unterschiedliche Art und Weise - Zusammenhänge der philologischen, ikonographischen und architektonischen Konzeption ägyptischer Tempeldekoration der griechisch-römischen Zeit aufzeigen.

Ziel der Datenerfassung: Mit SERaT ist ein Werkzeug geschaffen, das für Arbeiten mit griechisch-römischen Tempelinschriften, die ohnehin schwer zu lesen sind, eine wesentliche Hilfe darstellt. Muss man mit konventionellen Mitteln Monate aufwenden, um aus allen Publikationen einen einzigen Suchbegriff wie einen Szenentitel oder einen Götternamen in Ritualszenen herauszufinden, so geht das jetzt in Sekundenschnelle. Noch krasser ist der Zeitunterschied beim Suchen von Begriffskombinationen. Mit SERaT sind durch diese Schnelligkeit großangelegte Vergleiche zwischen einzelnen Tempeln und Tempelteilen leicht möglich. Da die Ägypter ihre Tempel nach wohlüberlegten Regeln und Schemata dekoriert haben, lassen sich durch eine Kartierung von Suchergebnissen mit "Szenario" Strukturen erkennen, die bei konventioneller Beschäftigung mit Texten und Bildern verborgen blieben. Mit dem Programm "Retriever" ist erstmals das gesamte Darstellungsmaterial der griechisch-römischen Zeit nahezu vollständig erschlossen, wobei auch eine große Menge unpublizierten Materials aufgenommen wurde. Da die Auswahl der Bildfolgen, die mit diesem Programm auf den Bildschirm gerufen werden, über die Datenbank gesteuert wird, kann man z.B. - nach philologischen Kriterien erschlossen - Darstellungen gleicher Ritualhandlungen, nach ihrer Datierung gegliedert, nacheinander betrachten und bearbeiten. Mit Hilfe solcher Reihenuntersuchungen lassen sich in kurzer Zeit ikonographische Charakteristika für bestimmte Tempelbereiche oder bestimmte Zeiten herausfiltern, wohingegen zur Zeit immer noch das Vorurteil zu hören ist, dass sich die Darstellungen in den Tempeln der griechisch-römischen Zeit nicht sehr voneinander unterscheiden. Während sich Untersuchungen von Themen aus dem Bereich dieser Tempel bisher weitgehend auf die mühselige und zeitaufwendige Materialaufnahme und -sichtung beschränkten, ist mit einem Hilfsmittel wie SERaT nun die Möglichkeit geboten, das Schwergewicht der Arbeiten in weit stärkerem Masse auf die eigentliche, inhaltlich-qualitative Materialauswertung und -interpretation zu verlagern.

Im Anschluss an die Beschreibung von SERaT wurde eine Reihe von Demonstrationen mit Hilfe des Programmes durchgeführt.


aus: Protokoll des 83. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 17. November 2001