Das im folgenden vorgestellte Projekt wird getragen von der Abteilung für mittelalterliche Geschichte des Historischen Seminars der Universität Tübingen (Prof. Dr. Wilfried Hartmann) und den Monumenta Germaniae Historica, München (Priv.-Doz. Dr. Gerhard Schmitz). Ziel ist eine kritische Edition in Buch- und elektronischer Form. Für den grundlegenden Teil der Arbeit wird TUSTEP eingesetzt. Die TUSTEP-Programmierung lag in den Händen von Dr. Wolfhard Steppe, der damit für ein anderes Editions-Projekt ("Concilia 5" [ein Bericht darüber wurde am 4. Okt. 1999 beim Kongress der ITUG in Burgos gegeben]) konzipierte Programme weiterentwickelt hat. Da die Mitarbeiter von verschiedenen Orten auf die Arbeitsdateien zugreifen müssen, war es nötig, ein besonderes System der Datenhaltung zu entwickeln. Dies, wie auch die Web-Darstellung, war und ist Aufgabe von Clemens Radl (Tübingen). Informationen über den Stand des Unternehmens sowie eine Fülle von Materialien (Handschriftentexte, Literatur, Quellen- und Rezeptionstexte u.a.m.) können jederzeit über http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/haupt.htm eingesehen und abgerufen werden. Das Datenverwaltungssystem steht nur den Mitarbeitern offen.
Etwa zwanzig Jahre später erschien eine weitere Sammlung, die sich als "Kapitulariensammlung" und expressis verbis als Fortsetzung der Sammlung des Ansegis ausgab. Ihr Autor nannte sich in den Eingangsversen und im Vorwort "Benedictus" und behauptete, er sei von Stand "Levita" (Diakon) und habe vornehmlich im Archiv der Mainzer Kirche gearbeitet. Den Auftrag dazu habe ihm Erzbischof Otgar gegeben. Da er von Otgar, der 847 gestorben ist, als einem bereits Toten spricht, ergibt sich der Terminus post quem. Der sichere Terminus ante quem ergibt sich aus der ersten eindeutigen Zitierung der Sammlung durch Erzbischof Hinkmar von Reims aus dem Jahre 857. Nach 847 und vor 857 muss die Sammlung also ans Licht gekommen sein, möglicherweise lässt sich die Sammlung noch ein halbes Jahrzehnt vordatieren, aber das ist nicht absolut sicher. Im Archiv der Mainzer Kirche habe Benedict, so lässt er uns in seinem Vorwort wissen, all die Kapitel gesammelt, die seinem Vorgänger Ansegis entgangen seien oder die er vielleicht, aus welchen Gründen auch immer, nicht in sein Werk habe aufnehmen wollen. Er habe relativ eilig gearbeitet und deshalb sei ihm manches zweimal oder gar dreimal in sein Werk geraten. Das habe er nicht mehr (aus-)sortieren können. Im übrigen verhalte es sich so: Manche Kapitel seien am Anfang gleich, in der Mitte und am Schluss aber verschieden, manche am Schluss gleich, aber am Anfang verschieden, manche wieder in der Mitte gleich, aber am Anfang und Schluss verschieden - hier möge der geneigte Leser doch bitte selber Ordnung schaffen. Anders als Ansegis ordnet Benedict seine Kapitel auch keinem speziellen Gesetzgeber zu, und eine Unterscheidung in weltliche bzw. kirchliche Rechtsbereiche wird erst gar nicht versucht. Auf diese Weise überhäuft Benedict den Leser mit einem Wust von insgesamt 1732 Kapiteln, die sich in wilder Unordnung befinden. Außer inhaltlichen Plausibilitätsgründen hatte der mittelalterliche Leser kein Kriterium, nach dem er die Sammlung hätte analysieren oder beurteilen können. Die moderne Forschung hat indessen längst herausgefunden, dass die Collectio Benedicti alles andere als eine "Kapitularien"-Sammlung ist. Schon aus diesem Grunde gilt sie als Fälschung: Sie gibt sich als etwas aus, was sie auf weite Strecken gar nicht ist, nämlich als eine Sammlung königlicher Rechtssätze. Indessen muss man den Begriff "Fälschung" differenziert betrachten: Es ist keineswegs alles gefälscht, was Benedict bietet. In der von ihm tradierten Textmasse befinden sich zahlreiche echte Stücke, zum Teil von hervorragender Textqualität und in Einzelfällen überhaupt nur durch ihn überliefert. Diese echten Stücke können überlieferungsgerecht tradiert, aber auch redigiert (jedoch nicht verfälscht) sein. Weiter finden sich aber auch verfälschte Stücke, vollständige Fälschungen, die mosaikartig aus echten Quellenstücken zusammenmontiert sind, und schließlich noch solche, die nur der Phantasie ihres Urhebers entsprungen sind. Die Tendenz der Fälschungen und Verfälschungen zeigt die Richtung, in der Urheber des Werkes zu suchen ist: Er gehört zum Kreis der "Pseudo-Isidorianer", also jener Gruppe von Personen, denen wir die "Pseudoisidorischen Fälschungen" verdanken, die Johannes Haller "den größten Betrug der Weltgeschichte" genannt hat. Ihren Namen hat dieses Ensemble von Fälschungen durch die päpstlichen Pseudo-Dekretalen erhalten, als deren Sammler ein "Isidorus Mercator" auftritt, den es ebenso wenig gegeben hat wie einen in Mainz arbeitenden "Benedictus Levita": Schon weil sie sich so nennen, heißen sie nicht so, könnte man in leichter Abwandlung eines Satzes von Friedrich Maassen formulieren. Neusten Forschungen von Klaus Zechiel-Eckes haben wir die Erkenntnis zu verdanken, dass die Fälschercrew aller Wahrscheinlichkeit nach im Kloster Corbie (im nördlichen Westfrankenreich gelegen) arbeitete (Zusammenfassung des Forschungsstandes sowie Perspektiven künftiger Forschung in: Fortschritt durch Fälschungen? Ursprung, Gestalt und Wirkungen der pseudoisidorischen Fälschungen, hg. von Wilfried Hartmann und Gerhard Schmitz [Monumenta Germaniae Historica, Studien und Texte 313, 2002]; der Band enthält Beiträge zu einem gleichnamigen Symposium, das Ende Juli 2001 in Tübingen stattfand).
Wie aus den gemachten Andeutungen ersichtlich sein dürfte, stellen die pseudoisidorischen Fälschungen allerhöchste Ansprüche an Text- und Quellenkritik. Nicht zuletzt deshalb haben sie sich bislang als "editionsresistent" erwiesen: Weder das Fälschungsensemble als ganzes noch die einzelnen Teile (Pseudoisidorische Dekretalen, Benedictus Levita, die sog. Capitula Angilramni und die Collectio Hispana Gallica Andegavensis, evtl. noch weitere kleinere Fälschungen) liegen in einer kritischen Edition vor. Verschiedene Anläufe sind von verschiedenen Forschern gemacht worden, nichts wurde erfolgreich abgeschlossen. Eine besondere historia calamitatum bietet die Editionsgeschichte des Benedictus Levita.
Die Realisierung erfolgte in zwei Richtungen: Zum einen war der Text der Überlieferung zu erfassen. Herkömmlicherweise wäre dies durch Kollationen erfolgt, die die Abweichungen eines Überlieferungsträgers von einem vorgegebenen Kollationstext protokollieren. In diesem Fall wurde der umgekehrte Weg beschritten: Der digitalisierte Baluze-Text wurde an die Form der jeweiligen Handschrift angeglichen, so dass jeweils ein Volltext entstand, der mit dem des jeweiligen Überlieferungsträgers identisch ist; nicht Abweichungen wurden protokolliert, sondern Identisches hergestellt. Deshalb sind wir in der Lage, auf der Web-Site die handschriftenidentischen Texte Benedicts überlieferungsgerecht zu präsentieren. Die Bibliotheken sind meist zögerlich, wenn es um die Digitalisierung und elektronische Präsentation ihrer Handschriften geht; deshalb ist uns die Präsentation der Handschrift selber bislang nur in einem, allerdings nicht unwichtigen Fall möglich: Mit der Handschrift Berlin, Staatsbibliothek - Preußischer Kulturbesitz, Codex Phillipicus 1762 liegt uns noch eine Arbeitshandschrift des Erzbischofs Hinkmars von Reims (gest. 882) vor, die - neben der Kapitulariensammlung des Ansegis - die vier Additiones der "Kapitularien"-Sammlung des Benedictus Levita enthält. Dieser Teil der Handschrift kann in verschiedenen Vergrößerungsstufen neben dem transkribierten Text der Handschrift auf der WWW-Seite des Projekts betrachtet werden: http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/handschriften/b7t.htm
Abbildung 1: Seite einer Benedict-Handschrift
Die handschriftenidentischen Volltexte wurden automatisch mit Hilfe des TUSTEP-Programms "Vergleiche" miteinander verglichen, die Abweichungen wurden abgespeichert und nach mäßiger, "per Hand" erfolgter Bearbeitung in eine Volltextdatei eingefügt.
Abbildung 2: Schematische Darstellung des Arbeitsablaufs
Die Arbeit der Herausgeber bestand somit vor allem darin, geeignete Aufsatzpunkte für den Vergleich zu bestimmen und Kriterien zu entwerfen, nach denen der Textvergleich und die Zusammenführung der Einzeltexte erfolgen sollte. Der zeitaufwändige und fehlerträchtige manuelle Vergleich der einzelnen Textzeugen musste dagegen nicht durch die Editoren erfolgen. Auf diese Weise entstand eine "Basis-Datei" mit einem textkritischen Apparat, die als Ausgangspunkt für die endgültige Edition dient. Wesentlich war, dass auf diese Weise in relativ kurzer Zeit ein editorischer "Rohtext" von gleicher Qualität für den gesamten Text erstellt werden konnte. Die kritische Edition wird nämlich nicht von "vorne nach hinten" bearbeitet, sondern nach den von Benedict benutzten Quellenblöcken (derer er sich in der Regel an mehreren Stellen seines Werkes bedient hat). Bei der Erstellung von Registern kann wieder auf die bewährten Hilfsmittel zurückgegriffen werden, die von TUSTEP zur Verfügung gestellt werden. Gleiches gilt für den Satz des fertigen Textes, der ebenfalls durch das Tübinger Softwarepaket geschehen kann. Somit ist es den Herausgebern möglich, den vollständigen Entstehungsprozess zu überwachen. Dank der hohen Verarbeitungsgeschwindigkeit ist es praktikabel und sogar sinnvoll, auch nach kleineren Korrekturen einen Satzprogrammlauf durchzuführen, um sogleich die Auswirkungen im Druckbild überprüfen zu können.
Dank der von TUSTEP gebotenen Möglichkeiten sind die edierten Texte jederzeit aus dem Gesamtbestand herauszufiltern und nach Quellengruppen getrennt oder insgesamt auszudrucken oder anderweitig weiter zu verwenden. Die edierten Texte werden in einem anwendungsneutralen Auszeichnungsformat vorgehalten, das sehr leicht auch in standardisierte Textauszeichnungssysteme wie XML/SGML zu überführen ist. Dadurch ist gewährleistet, dass bei Bedarf weitere Verarbeitungsschritte auch problemlos mit anderen Software-Programmen, die auf die Verarbeitung von XML/SGML-Daten spezialisiert sind, durchgeführt werden können. Aus ein und derselben fertigen Editionsdatei können die verschiedenen Zielprodukte hergestellt werden (gedruckte Edition im herkömmlichen Sinne, Internetpräsentation, Veröffentlichung auf CD-ROM, ...). Die Vorteile einer elektronischen Edition liegen auf der Hand: Da Speicherplatz kein Problem darstellt, können - im Gegensatz zu dem auf das zweidimensionale Papier beschränkten Buchdruck - mehr Informationen geboten werden. Volltexte der Quellen und der Rezeption können bei Bedarf ebenso herangezogen werden wie kurze Ausschnitte aus der relevanten Sekundärliteratur. In einer typischen gedruckten Edition werden Quellenzitate durch besondere Schriftauszeichnung (z.B. Kursivdruck) kenntlich gemacht. Hierbei ist bei der gleichzeitigen Verwendung mehrer Quellen im selben Abschnitt auf den ersten Blick nicht immer ersichtlich, aus welcher Quelle ein bestimmtes hervorgehobenes Wort stammt. Die elektronische Edition ermöglicht es hier, die individuelle Zuordnung für den Benutzer sichtbar zu machen (etwa durch farbliche Auszeichnungen). Der Mehrwert der digitalen Edition wird erst dann zu einem wirklichen Vorteil, wenn die zusätzlich gebotenen Informationen durch den Benutzer individuell auf die jeweiligen Interessen zugeschnitten werden können: Was man nicht sehen will, blendet man einfach per Mausklick aus. Ein weiterer Vorteil einer elektronischen Edition ist ihr dynamischer Charakter: Sie kann jederzeit ergänzt und korrigiert werden. Eine Anpassung an den aktuellen Forschungsstand ist zeitnah möglich. Interessierte Benutzer können evtl. Kommentare in die Arbeit einfließen lassen. Eine elektronische Edition ist somit niemals wirklich abgeschlossen, sondern im Idealfall ständig in der Weiterentwicklung. Um aber die langfristige Zitierbarkeit der elektronischen Edition zu gewährleisten, ohne die sie in der wissenschaftlichen Praxis keine Akzeptanz finden könnte, ist es erforderlich ein Versionierungssystem einzuführen, sodass ältere Bearbeitungsstände rekonstruiert werden können, was etwa zur Nachprüfung von Zitaten, die sich auf einen länger zurückliegenden Zeitpunkt beziehen, unerlässlich ist. Durch die elektronische Edition ist es möglich, der komplexen Quellen- und Überlieferungslage der Falschen Kapitularien des Benedictus Levita gerechter zu werden als mit einer lediglich in Buchform vorliegenden Ausgabe. Die möglichst automatische Umsetzung der edierten Texte in eine im Netz präsentierbare Form, die jedoch zugleich bereits jetzt sicherstellt, dass die in der gedruckten Version gegebenen Seiten- und Zeilenzahlen auch in der elektronischen erhalten bleiben und damit eine absolute Kompatibilität gewahrt ist, befindet sich noch in einem Experimentierstadium, die endgültige Lösung ist noch nicht gefunden. Auf der Webseite des Projekts werden verschiedene Probeeditionen zur Diskussion gestellt: http://www.uni-tuebingen.de/mittelalter/forsch/benedictus/edition/edition.htm
Die zweite Richtung, die von vornherein verfolgt wurde, war die Digitalisierung von ergänzenden Materialien. Digitalisiert wurde nicht nur die wissenschaftsgeschichtlich interessierende editio princeps Jean du Tillets (die eine bibliophile Rarität ersten Ranges darstellt), sondern auch der Text Étienne Baluzes, der mit einer komfortablen Suchmaschine ausgestattet wurde: Hier wird erstmals die Möglichkeit geboten, die Sammlung Benedicts nach allen möglichen Kriterien zu durchsuchen. Ferner wurden sämtliche "Studien" von Emil Seckel digitalisiert; sie sind jetzt in zitierfähiger Form im Netz, zudem etliche andere Arbeiten, die generell oder in Einzelfragen benötigt werden: Neben zentralen Texten der Sekundärliteratur werden (teilweise als Erstedition) einige ansonsten schwer zugängliche Quellen- und Rezeptionstexte angeboten. Die Internetseite des Projektes dient somit nicht nur zur Demonstration der Arbeitsfortschritte, sondern auch als Arbeitsinstrument für die Mitarbeiter selbst sowie für dem Projekt nicht angehörende Wissenschaftler, und sie besitzt bereits jetzt, während das Editionsprojekt selbst noch nicht abgeschlossen ist, als "Spezialbibliothek" zu Benedictus Levita einigen wissenschaftlichen Wert.
aus: Protokoll des 84. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 2. Februar 2002