Ludwig Binswanger sen., der die Anstalt im Jahr 1857 gründete, verwirklichte dort seinen lang gehegten Traum eines kleinen Privatasyls, in dem Kranke aus den besseren Ständen in der Familie des Arztes und in intimem familiärem Rahmen ein heilsames Milieu finden sollten. Sein Sohn Robert, der die Anstalt 1880 übernahm, öffnete die Klinik gegenüber modernen psychotherapeutischen Verfahren und gestaltete sie zu einem weitläufigen Areal um, das in verschiedenen Häusern mit ganz unterschiedlichen Konzepten Nervenkranken ebenso wie schwer Psychosekranken das ganze Spektrum psychiatrisch-psychotherapeutischer Therapie anbieten konnte. Dessen Sohn Ludwig Binswanger jun., der 1910 die Nachfolge seines Vaters antrat, wurde zum berühmtesten Spross der Familie. In einer Art Synthese der Konzepte seiner beiden wichtigsten Lehrer Eugen Bleuler und Sigmund Freud und unter Einbeziehung von philosophischen Konzepten wie der Phänomenologie Edmund Husserls und der Daseinsanalytik Martin Heideggers schuf er sein eigenes Denksystem, die Daseinsanalyse, und gestaltete die Klinik zu einem Zentrum philosophisch-psychologischer Auseinandersetzung mit zahlreichen Geistesgrößen seiner Zeit. Seine Korrespondenz mit Martin Heidegger und Edmund Husserl, Karl Jaspers, Ernst Cassirer, Friedrich Bollnow, Martin Buber und Paul Häberlin, Walter Schulz und Eduard Spranger, Wilhelm Szilasi, Wolfgang Schadewaldt, Erwin Straus und Viktor von Weizsäcker und vielen anderen zeugt davon. 1961 übergab er die Leitung der Klinik seinem Sohn Wolfgang Binswanger, der sie, dogmatisch nicht festgelegt, fortführte und vielerlei Experimenten öffnete, etwa der berühmt gewordenen Therapeutischen Gemeinschaft mit Drogenabhängigen von Napolitani. 1980 schloss die Klinik aus wirtschaftlichen Gründen den Betrieb.
Durch Vermittlung von Gerhard Fichtner, dem damaligen Direktor des Tübinger Medizinhistorischen Instituts, und Volker Schäfer, dem damaligen Leiter des Tübinger Universitätsarchivs und mit Unterstützung von Adolf Theis, dem damaligen Präsidenten der Universität Tübingen, gelang es 1986, den Nachlass Ludwig Binswangers und die gesamten Kranken- und Verwaltungsakten der Klinik ins Tübinger Universitätsarchiv zu übernehmen, wo sie verwahrt und wissenschaftlicher Benutzung zugänglich gemacht werden. In Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Geschichte der Medizin und dem Universitätsarchiv ist ein Großprojekt ins Leben gerufen worden, das die Krankengeschichten und Verwaltungsakten der Klinik erschließt und auswertet und die Texte für weitere Forschungen zugänglich machen soll. Dieses Projekt wird seit dem Jahr 2000 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert:
http://www.uni-tuebingen.de/igm/dfg/dfg.html
Bei den Quellen handelt es sich um einen fast einzigartigen Bestand von psychiatrischen Krankengeschichten, der durch die Verwaltungsakten, ein umfangreiches Privatarchiv und vor allem den Nachlass Ludwig Binswanger juniors ergänzt wird. Persönliche Kontakte zu Mitgliedern der Familie Binswanger gaben auf dem Weg der mündlichen Überlieferung zahlreiche weitere wertvolle Aufschlüsse. Das Erschließungsprojekt beginnt mit der Anstaltsgründung 1857 und endet vorläufig im Jahr 1950. Jüngere Krankengeschichten werden aus Gründen des Arztgeheimnisses nicht einbezogen. Über die grundlegenden methodischen Fragen, die sich für dieses Projekt stellten, sowie über einige Ergebnisse quantitativer sozialhistorischer Fragestellungen aus den bisher bearbeiteten Untersuchungszeiträumen 1857 bis 1880 und 1881 bis 1910 berichtete auf einer Tagung Anfang Oktober 2002 Annett Moses (die nachfolgenden Diagramme sind teilweise dieser Publikation entnommen). Doktoranden des Instituts, die jeweils einen Fünfjahreszeitraum bearbeiten und dabei zahlreiche Krankenakten vollständig transkribieren und interpretieren, illustrierten in kasuistischen Vorträgen die quantitativen Analysen. Die Vorträge sind auf dem Publikationsserver der Universitätsbibliothek Tübingen zugänglich:
http://www.uni-tuebingen.de/ub/elib/tobias.htm
Es handelt sich zwischen 1857 und 1950 um 6215 Patientenaufnahmen. Die formalen Daten wurden den Aufnahmebüchern und den Krankenblättern entnommen und in eine mit TUSTEP erstellte Datenbank eingetragen. Eine erste Bestandsrubrizierung erfolgte im Rahmen der Erschließungsarbeiten des Universitätsarchivs. Diese Datenbank wurde im Rahmen unseres Forschungsprojekts um zahlreiche Felder erweitert und umfasst jetzt folgende Rubriken:
Abb. 1: Datenformular
Abb. 2: Excel-Datei, Herkunftsländer
Abb. 3: Diagramm Herkunftsländer
Ein Vergleich der Zeiträume 1857 - 1880 (Direktorenschaft
Ludwig Binswanger sen.) und 1881 - 1910
(Direktorenschaft Robert Binswanger) zeigt, dass die
Klientel sich im Verlauf mehr und
mehr auf osteuropäische und andere Länder ausweitet,
während der Anteil der Schweizer Patienten
deutlich zurückgeht:
Abb. 4: Diagramm Herkunftsländer im Vergleich
Abb. 5: Verweilzeiten im Vergleich
Abb. 6: Berufe im Vergleich
Abb. 7: Diagnosen im Vergleich
aus: Protokoll des 86. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 23. November 2002