Aus dem Protokoll des 86. Kolloquiums über die Anwendung der
Elektronischen Datenverarbeitung in den Geisteswissenschaften
an der Universität Tübingen vom 23. November 2002

 

Albrecht Hirschmüller (Tübingen)

Das Tübinger Projekt zur Erschließung und Auswertung des Binswanger-Archivs mit TUSTEP

Josef Roth hat in seinem Roman "Radetzkymarsch" (Kap. 13) in ironischer Brechung von jener Anstalt am Bodensee gesprochen, in der verwöhnte Irrsinnige aus reichen Häusern behutsam und kostspielig behandelt wurden und die Irrenwärter zärtlicher waren wie Hebammen". Zur Klientel dieser Anstalt gehörten z.B. etliche Patienten Sigmund Freuds, wie der Kulturhistoriker Aby Warburg, der Tänzer Waslaw Nijinski, der Maler Ernst Ludwig Kirchner, der Dichter und Architekt Rudolf Alexander Schröder und der Bauhausbegründer Henry van de Velde nebst seiner Tochter Nele, um nur solche Personen zu nennen, von denen die Tatsache, dass sie Patienten des Bellevue waren, allgemein bekannt ist. Die Klinik hatte sich über Jahrzehnte hin über den engeren Einzugsbereich der Nordschweiz und Süddeutschlands hinaus einen großen Ruf erworben und Patienten aus West-, Süd- und Osteuropa ebenso angezogen wie zahlungskräftige Kranke aus Übersee.

Ludwig Binswanger sen., der die Anstalt im Jahr 1857 gründete, verwirklichte dort seinen lang gehegten Traum eines kleinen Privatasyls, in dem Kranke aus den besseren Ständen in der Familie des Arztes und in intimem familiärem Rahmen ein heilsames Milieu finden sollten. Sein Sohn Robert, der die Anstalt 1880 übernahm, öffnete die Klinik gegenüber modernen psychotherapeutischen Verfahren und gestaltete sie zu einem weitläufigen Areal um, das in verschiedenen Häusern mit ganz unterschiedlichen Konzepten Nervenkranken ebenso wie schwer Psychosekranken das ganze Spektrum psychiatrisch-psychotherapeutischer Therapie anbieten konnte. Dessen Sohn Ludwig Binswanger jun., der 1910 die Nachfolge seines Vaters antrat, wurde zum berühmtesten Spross der Familie. In einer Art Synthese der Konzepte seiner beiden wichtigsten Lehrer Eugen Bleuler und Sigmund Freud und unter Einbeziehung von philosophischen Konzepten wie der Phänomenologie Edmund Husserls und der Daseinsanalytik Martin Heideggers schuf er sein eigenes Denksystem, die Daseinsanalyse, und gestaltete die Klinik zu einem Zentrum philosophisch-psychologischer Auseinandersetzung mit zahlreichen Geistesgrößen seiner Zeit. Seine Korrespondenz mit Martin Heidegger und Edmund Husserl, Karl Jaspers, Ernst Cassirer, Friedrich Bollnow, Martin Buber und Paul Häberlin, Walter Schulz und Eduard Spranger, Wilhelm Szilasi, Wolfgang Schadewaldt, Erwin Straus und Viktor von Weizsäcker und vielen anderen zeugt davon. 1961 übergab er die Leitung der Klinik seinem Sohn Wolfgang Binswanger, der sie, dogmatisch nicht festgelegt, fortführte und vielerlei Experimenten öffnete, etwa der berühmt gewordenen Therapeutischen Gemeinschaft mit Drogenabhängigen von Napolitani. 1980 schloss die Klinik aus wirtschaftlichen Gründen den Betrieb.

Durch Vermittlung von Gerhard Fichtner, dem damaligen Direktor des Tübinger Medizinhistorischen Instituts, und Volker Schäfer, dem damaligen Leiter des Tübinger Universitätsarchivs und mit Unterstützung von Adolf Theis, dem damaligen Präsidenten der Universität Tübingen, gelang es 1986, den Nachlass Ludwig Binswangers und die gesamten Kranken- und Verwaltungsakten der Klinik ins Tübinger Universitätsarchiv zu übernehmen, wo sie verwahrt und wissenschaftlicher Benutzung zugänglich gemacht werden. In Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Geschichte der Medizin und dem Universitätsarchiv ist ein Großprojekt ins Leben gerufen worden, das die Krankengeschichten und Verwaltungsakten der Klinik erschließt und auswertet und die Texte für weitere Forschungen zugänglich machen soll. Dieses Projekt wird seit dem Jahr 2000 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert:

http://www.uni-tuebingen.de/igm/dfg/dfg.html

Bei den Quellen handelt es sich um einen fast einzigartigen Bestand von psychiatrischen Krankengeschichten, der durch die Verwaltungsakten, ein umfangreiches Privatarchiv und vor allem den Nachlass Ludwig Binswanger juniors ergänzt wird. Persönliche Kontakte zu Mitgliedern der Familie Binswanger gaben auf dem Weg der mündlichen Überlieferung zahlreiche weitere wertvolle Aufschlüsse. Das Erschließungsprojekt beginnt mit der Anstaltsgründung 1857 und endet vorläufig im Jahr 1950. Jüngere Krankengeschichten werden aus Gründen des Arztgeheimnisses nicht einbezogen. Über die grundlegenden methodischen Fragen, die sich für dieses Projekt stellten, sowie über einige Ergebnisse quantitativer sozialhistorischer Fragestellungen aus den bisher bearbeiteten Untersuchungszeiträumen 1857 bis 1880 und 1881 bis 1910 berichtete auf einer Tagung Anfang Oktober 2002 Annett Moses (die nachfolgenden Diagramme sind teilweise dieser Publikation entnommen). Doktoranden des Instituts, die jeweils einen Fünfjahreszeitraum bearbeiten und dabei zahlreiche Krankenakten vollständig transkribieren und interpretieren, illustrierten in kasuistischen Vorträgen die quantitativen Analysen. Die Vorträge sind auf dem Publikationsserver der Universitätsbibliothek Tübingen zugänglich:

http://www.uni-tuebingen.de/ub/elib/tobias.htm

Datenaufnahme

Ziel des Projektes ist einerseits die Beschreibung des Patientenbestandes der Klinik und andererseits die Volltexterfassung einer repräsentativen Auswahl der Krankenunterlagen zur inhaltlichen Auswertung.

Es handelt sich zwischen 1857 und 1950 um 6215 Patientenaufnahmen. Die formalen Daten wurden den Aufnahmebüchern und den Krankenblättern entnommen und in eine mit TUSTEP erstellte Datenbank eingetragen. Eine erste Bestandsrubrizierung erfolgte im Rahmen der Erschließungsarbeiten des Universitätsarchivs. Diese Datenbank wurde im Rahmen unseres Forschungsprojekts um zahlreiche Felder erweitert und umfasst jetzt folgende Rubriken:

Abb. 1: Datenformular

Auswertung

Mit TUSTEP-Mitteln werden aus dieser Datenbank Register angefertigt (Register der Herkunftsorte, Berufe, Aufnahme- und Entlassungsdiagnosen usw.). Die Daten werden quantitativ aufbereitet, nach Jahren oder in größeren Zeiteinheiten zusammengefasst, die Ergebnisse mit TUSTEPMitteln aufbereitet, dann in ein Windows-kompatibles Tabellenkalkulationsprogramm (Excel) konvertiert und dort grafisch aufbereitet.

Herkunftsorte

Als Beispiel wird nachfolgend der Prozess für die Herkunftsorte erläutert: In der Datenbank wird zu den Wohnorten ein Länderkennzeichen ergänzt, die Länder werden zu Gruppen zusammengefasst und für den Gesamtzeitraum gezählt. Das Ergebnis wird konvertiert und daraus ein Kuchendiagramm erstellt.

Abb. 2: Excel-Datei, Herkunftsländer

Abb. 3: Diagramm Herkunftsländer


Ein Vergleich der Zeiträume 1857 - 1880 (Direktorenschaft Ludwig Binswanger sen.) und 1881 - 1910 (Direktorenschaft Robert Binswanger) zeigt, dass die Klientel sich im Verlauf mehr und mehr auf osteuropäische und andere Länder ausweitet, während der Anteil der Schweizer Patienten deutlich zurückgeht:

Abb. 4: Diagramm Herkunftsländer im Vergleich

Verweilzeiten

Mit den Rechenanweisungen in TUSTEP werden aus der Differenz von Entlassungs- und Aufnahmedatum Verweilzeiten errechnet, die in Registerform für den Einzelpatienten oder auch zur Bestimmung von Durchschnittswerten genutzt werden können. Die Zusammenfassung in Gruppen führt nach Konvertierung der Daten nach Excel zu einem Diagramm, welches erlaubt, die beiden Zeiträume gegeneinander abzugrenzen:

Abb. 5: Verweilzeiten im Vergleich

Berufe

Die Berufsbezeichnungen werden einem vordefinierten Berufsgruppenschema zugeordnet. Dabei bleibt die Zuordnung durch TUSTEP-basierte zweistufige Register im Einzelfall durchsichtig. Nach Konvertierung nach Excel ergibt sich wiederum eine Vergleichsmöglichkeit über den sozialen Wandel der Klientel im 1. und 2. Untersuchungszeitraum:

Abb. 6: Berufe im Vergleich

Diagnosen

Ähnliches wird mit den Diagnosen vorgenommen, die zuvor zu Gruppen zusammengefasst werden:

Abb. 7: Diagnosen im Vergleich

Transkription der Krankengeschichten

Die Volltexterfassung einer repräsentativen Auswahl von Krankenblättern erfolgt im Rahmen von Dissertationen. Dabei werden sämtliche Dokumente transkribiert. Die Datenaufnahme erfolgt in Word, die Daten werden nach TUSTEP konvertiert und können dann mit TUSTEP-Mitteln anonymisiert, sortiert und registriert werden. Ziel dieses Teilprojekts ist es, bestimmte Arten von Dokumenten (Krankengeschichten, Arztbriefe, Patientenkorrespondenz) hinsichtlich der dort zu beobachtenden Sprache und bestimmter Begriffe und Formulierungen weiter zu untersuchen.

Binswanger-Bibliothek

Die wertvolle Binswanger-Bibliothek wurde mit TUSTEP-Mitteln katalogisiert. Auch Widmungen, Besitzeinträge, Anstreichungen und Marginalien wurden dabei erfasst. Der Aufwand war ungleich geringer als die Katalogisierung im Südwestverbund. Ein gedruckter Standort- und Autorenkatalog liegt vor.

Fazit

TUSTEP erweist sich für das Binswanger-Projekt als unerlässliches Hilfsmittel wegen der Möglichkeiten, große Mengen strukturierter Daten zu wandeln, zu sortieren, umzuordnen und auszuwerten. Daten von gängigen Office-Programmen nach TUSTEP und umgekehrt zu wandeln, bietet keine grundsätzlichen Schwierigkeiten, so dass die Vorteile des jeweiligen Systems (Vielfältigkeit der Nutzungsmöglichkeiten in TUSTEP, Einfachheit der Datenerfassung und Möglichkeiten der grafischen und quantitativen Aufbereitung durch gängige Officeprogramme) sich gegenseitig sinnvoll ergänzen.


aus: Protokoll des 86. Kolloquiums über die Anwendung der EDV in den Geisteswissenschaften am 23. November 2002